„Alle Zeit auf Erden hatte ich plötzlich. Alt wie ich war: Mehr Zeit denn je. Und das Buch des Lebens: Offen und dabei dingfest, die Seiten, aufleuchtend im Wind der Welt.“ Solche Gedanken findet man am Anfang des neuen Buchs „Die Obstdiebin“ von Peter Handke (Foto: Antonio Cotrim/ epa/ dpa). Der Ich-Erzähler ist dabei ein literarisierter Autor, sein künstlerisches Double. Er geht auf Reise, bricht von seiner „Niemandsbucht“ auf. Damit ist ohne Zweifel Handkes Haus in Chaville gemeint, gelegen an der südwestlichen Peripherie von Paris. Der Autor-Erzähler nimmt den Leser bei der Hand: erst den Koffer packen, nochmals durch den Garten gehen, das Haus absperren. Und dann sich aufmachen zum gemütlichen Reiseabenteuer. Es ist keine Kontinente umspannende Fahrt, wie sie Handke Ende der Achtzigerjahre unternommen hat, sondern es geht vom Pariser Gare Saint- Lazare durch die Île-de-France hinein in die Picardie.
Bis Handkes Obstdiebin ins Bild kommt, vergeht einige Zeit. Beobachtungen und Gedanken des Autor-Erzählers deuten an, dass man sich die Schönheit und die Erhabenheit ruhiger Wahrnehmung durchaus erarbeiten, besser noch, sehend erkämpfen muss. Denn Handkes Welt kennt auch den islamistischen Terror. Dieser Terror schwebt wie eine dunkle Wolke über dem Erzählten. Wer aber ist diese Obstdiebin? Sie, die mit Vornamen Alexia heißt, wurde schon seit Kindheitstagen Obstdiebin genannt. Das ist durchaus ironisch gemeint. Das Mädchen, jetzt eine junge Frau, hat es sich zur Gewohnheit gemacht, in fremden Gärten eine Frucht vom Baum oder Strauch zu nehmen: eine Birne, einen Apfel, vielleicht eine Handvoll Brombeeren – mehr nicht. So ist Alexia in Wahrheit weniger eine Obstdiebin denn eher eine, die Obst stibitzt, also eine Obststibitzerin.
Handkes Heldin hat gerade eine weite Reise hinter sich, Tundra und Taiga werden genannt. Jetzt ist sie nach Frankreich zurückgekehrt, sucht nach ihrer angeblich verschollenen Mutter und trifft bei ihrer Reise durch die Picardie auch auf Vater und Bruder. Diese Familie der Obstdiebin ergibt eine seltsame Mischung. Ihre Mutter ist Chefin einer Bank, also ganz im geschäftigen Diesseits befangen. Der Vater, ein etwas heruntergekommener Lebemann, wird als selbst ernannter Historiker, Geograf und Vielredner dargestellt. Der Bruder arbeitet zufrieden als Schreiner. Und Alexia selbst? Sie ist irgendwie ein Lichtwesen. Dass sie Obst klaut, macht sie in den Augen der anderen zu jemanden, der die Früchte der Natur als eine Art Geschenk schätzt.
Diese Obstdiebin ist der Natur, aber auch dem langsamen Beobachten nahe. Deswegen sagen einige, sie sei auf einer „Mission“. Freilich, die „Mission“ Alexias besteht nicht darin, andere zu veganer Lebensführung zu bringen oder Menschen zu Frutariern umzupolen. Handkes Heldin isst Fleisch, trinkt Wein – doch dies alles in Maßen. Bei der „Mission“, wenn man sie überhaupt so nennen will, geht es um Entschleunigung, genaues Beobachten, schlicht gesagt, um Natur- und Menschenliebe: „Die Welt, das war die Dreiecksgeschichte zwischen einem selber, der Natur und den Anderen. O die Anderen! Die göttlichen Anderen.“ Der andere – der kann etwa der Inhaber eines kleinen Hotels sein, der die Frau und ihren zeitweiligen Begleiter bei sich aufnimmt, beide freundschaftlich bewirtet, aber bei der Erstellung der Rechnung ganz ungeschickt hin und her tut, als habe er einem Gast noch nie etwas berechnet. So eine Szene mag komisch, ja, einfältig erscheinen. Doch Handke geht es auch um das große Thema der Gastfreundschaft, um die Freundschaft und Freundlichkeit der Menschen untereinander, den anderen als „Gast“ zu erkennen – und dies nicht nur in Zeiten großer Not.
Am Schluss von Peter Handkes Prosatext kommt es zu einem großen Fest, das die heimgekehrte Mutter Alexias organisiert. Auch ihr Vater ist da, hält eine Rede, spricht die Gäste mit Worten an, die der Autor ihm in den Mund legt: „Wir Staatenlosen, hier und heute den Staat Losen, unbelangbar vom Staat. Wir ohne Rolle, während die Staatsleute, unbeirrbar, in ihrer Rolle bleiben. Wir ewig zagen Unverzagten. Die ewigen Zögerer und Hinauszögerer. Die Ungeduldigen im Herrn. Die Umwegmacher.“
Geübte Leser von Handkes Prosa wissen, dass in seinen Büchern, so in „Die Obstdiebin“, immer Passagen vorkommen, deren Länge den Geduldsfaden bis zur Zerreißgrenze dehnen. Geübte Leser wissen aber auch, dass man an solchen Stellen lesend von Langsamkeit auf Beschleunigung umschalten kann, ja, darf. Das alles ändert aber nichts an der, sagen wir „Botschaft“, die der Autor seinen Lesern als „Mission“ an die Hand gibt: gegen die Schnelligkeit, Hartherzigkeit, Ignoranz unserer westlichen Lebenswelt aufzutreten – als wacher, menschen- und naturfreundlicher Zeitgenosse, der vielleicht sogar ahnt, wo Gott wohnen könnte. Dieses stete Beharren auf Entschleunigung, auf das Sich-Hinwenden zum Schönen und Guten der Welt, jenseits des Kitsches, macht aus Peter Handke einen Dichter, dessen Worte achtsam gelesen und vielleicht auf Umwegen ins eigene Leben übertragen werden sollten. Das gilt für die „Obstdiebin“ in besonderem Maß.
Peter Handke:
„Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“. Suhrkamp Verlag, Berlin, 560 Seiten; 34 Euro.