Wie sagt doch der Lateiner: „omnia vincit amor“, die Liebe besiegt alles – auch den nüchternen Blick. Denn Verliebte neigen dazu, den Gegenstand ihrer Liebe hemmungslos zu verklären; so wie Nicola Gardini, der sich in die lateinische Sprache verknallt hat: „Latein ist das großartigste Denkmal, das der Kultur des menschlichen Wortes und dem Glauben an die Möglichkeiten der Sprache je gesetzt worden ist“, verkündet der 1965 geborene Italiener. Das mag ein wenig übertrieben klingen, aber „cum grano salis“ kann man es schon gelten lassen. Zumindest, wenn man Gardinis neues Buch gelesen hat. „Latein lebt“ heißt seine leidenschaftliche Hymne an die „Schönheit einer nutzlosen Sprache“.
Gerade weil Gardini wirklich mit Herzblut schreibt, hat das Ergebnis nichts von trockener Schulweisheit. Vielmehr wirkt seine Schwärmerei so erheiternd wie ansteckend, etwa wenn er ganz hingerissen den Satzbau seines lateinischen Lieblingsautors Vergil als „unversiegbaren Quell der Freude und Bewunderung“ rühmt: „In der ‚Aeneis‘ steht das zu einem Satzteil gehörende Verb häufig erst am Beginn des Folgeverses. Plötzlich ist es da, taucht völlig überraschend auf; und weil es mit einer strukturell äußerst wichtigen metrischen Einheit – dem Versanfang – zusammenfällt, geht mit ebendiesem Verb eine Art Ruck durch den Satz, er beginnt und endet zugleich. Er verliert jegliche Behäbigkeit.“
Da geht auch ein Ruck durch den Leser, der es fast nicht für möglich gehalten hätte, dass das Gespür für solche subtilen Sensationen der Syntax weiterhin existiert – trotz des Bombardements der Banalitäten, das die Unterhaltungsindustrie auf uns niedergehen lässt. Und dass ein Verlag dieser Begeisterung Platz zwischen zwei Buchdeckeln einräumt, straft zudem jene Kulturpessimisten Lügen, die überall nur Wertverlust und Verfall wittern. Aber ist es nicht überhaupt seltsam, dass ausgerechnet die alten Sprachen, die lange Zeit als Inbegriff rückwärtsgewandter, auch elitärer Verknöcherung galten, unversehens einen latent widerständigen Charakter angenommen haben? Zumindest als Symbole wirklicher Bildung im Sinne einer Persönlichkeitsausformung stehen sie jenem hohlen, funktionalistischen Bildungsbegriff entgegen, der heute im Schwange ist und Menschen zu möglichst nützlichen Trägern rein instrumentellen Wissens degradiert. Der „dem Latein innewohnende Zauber“, meint Gardini, sei besonders gefährdet, weil in unseren Tagen „das Technologische“ für diejenigen, „die im Besitz der politischen und wirtschaftlichen Macht sind“, Vorrang habe.
Gleichwohl ist der Autor, der in Oxford Italienisch lehrt, kein altväterlicher Wertkonservativer. Sonst gäbe es in diesem fidelen Lateinbuch wohl kaum ein Kapitel, das „Der tiefere Sinn des Sex“ überschrieben ist und – unter anderem – eine ganze Liste lateinischer Obszönitäten enthält. Schließlich weiß er aus Erfahrung: „Wir Schüler gierten natürlich danach, sie zu lernen.“ Allerdings behauptet Gardini, offenbar im Einklang mit der neueren Forschung, dass diese Pfui-Wörter, die sich vor allem bei dem Dichter Catull finden, dort eine überraschend staatstragende Funktion hätten: „Sie sind Teil eines fest verankerten, rigiden Moralkodex, der die Gerechtigkeit, die persönliche Würde und die guten Sitten verteidigt.“ In klassischen Sprachen dienen eben selbst Schweinereien noch dem Guten, Wahren und Schönen – ganz anders als bei uns heute. „O tempora, o mores“, kann man da nur sagen.
Nicola Gardini:
„Latein lebt“. Aus dem Italienischen übersetzt von Stefanie Römer. Rowohlt Verlag, Reinbek, 304 S.; 19,95 Euro.