Neuerscheinung und Lesung

Er ist wieder da

von Redaktion

Jürgen Neffe stellte seine Karl-Marx-Biografie „Der Unvollendete“ vor

Von Michael Schleicher

Noch mehr Publikum passt hier kaum rein: Alle Plätze im Saal des Münchner Literaturhauses sind besetzt; 320 Menschen sitzen dicht gedrängt, sind neugierig auf Jürgen Neffe und seine Karl-Marx-Biografie „Der Unvollendete“. Das Buch ist vor wenigen Wochen erschienen und bereits ein Bestseller.

Marx, vor 200 Jahren am 5. Mai 1818 in Trier geboren, ist wieder da. In seinem so unterhaltsam geschriebenen wie kenntnisreich aufbereiteten Buch sucht Neffe nach den Gründen für dieses „bemerkenswerte Comeback“. Ihm ist an einer „Rückkehr zum vorbehaltlosen Umgang mit Marx und seinem Werk“ gelegen. Der Autor und Journalist weiß aber auch, dass dem „noch immer der -ismus im Wege“ steht, wie er lapidar im Prolog seiner Biografie anmerkt. Er will aber den „revolutionären Querkopf und Vordenker des 19. Jahrhunderts“ vor seinen „systemtreuen Jüngern“ in Schutz nehmen: „Marx hat nie einen Marxismus begründet. Nichts lag ihm ferner, als ein abgeschlossenes System zu schaffen. Die Welt im Wandel durch Widerspruch verträgt in seiner Sichtweise keine dogmatische Erstarrung.“

Der Autor, der in Naturwissenschaften promoviert und unter anderem bereits über Darwin sowie Einstein Biografien geschrieben hat, holt den Philosophen nah heran an unsere Gegenwart. Trifft Marx’ Analyse heute eher zu als zu dessen Lebzeiten von 1818 bis 1883? Sind wir gewissermaßen erst jetzt bei Marx angekommen? „Mich hat verblüfft“, sagt Neffe in München, „dass man mit dem, was Marx aufgeschrieben hat, in die Zukunft stolpert“. Umso erschreckender ist es für den 61-Jährigen, der für die Recherche zu seinem Buch auch Ökonomie-Vorlesungen an der Berliner Humboldt-Uni besucht hat, dass Marx bei den Ökonomen nicht Gegenstand der Lehre ist. „Das ist eine Schande, denn er ist ein Augenöffner.“

Wer nicht will, muss Neffe nicht in allen Thesen folgen, die von Marx bis zur Finanzkrise des Jahres 2008 führen. Schließlich kann auch bei der Lektüre Widerspruch erfrischend erkenntnisfördernd sein. Beeindruckend ist aber, wie es ihm auf den mehr als 600 Seiten gelingt, die Person seines Interesses von allen Seiten zu betrachten: „Wer Marx verstehen und würdigen will, muss das Gegenteil immer gleich mitdenken, zum Segen den Fluch und umgekehrt.“

Diesen dialektischen Ansatz erkennt Arno Widmann in Neffes Buch, das eine „sehr genaue Analyse von Marx’ Gedanken“ verbinde mit dem „Geschmack der Lebenssituation“ des Philosophen. Leider mäandert der Moderator ansonsten allzu häufig und gerne durch eigene Erinnerungen, Assoziationen, Anekdoten. Angenehm pointiert zeigt sich im Gespräch dagegen Jürgen Neffe. Er bringt dem Publikum Marx’ Ehefrau Jenny („Genau wie er zeigt sie Größe, wenn das Leben sie kleinmachen will.“) ebenso nahe wie dessen Hauptwerk „Das Kapital“, dem er ein „theoretisches, aber freundlich formuliertes Kapitel“ widmet. „Ab Seite 80 wird es besser lesbar, falls Sie es versuchen wollen“, macht er den Münchnern Mut. „Und ab Seite 160 wird es richtig spannend.“

Jürgen Neffe:

„Marx. Der Unvollendete“. C. Bertelsmann, München, 655 Seiten; 28 Euro.

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