Vielleicht muss man ja gar nicht immer alles verstehen. Auch wenn wir es unbedingt möchten, weil das Verstehen die beruhigende Illusion liefert, dass alles in Ordnung, dass die Welt gar nicht schief, sondern gerade sei. Ist Verstehen also womöglich immer auch ein Bejahen der schlechten Verhältnisse? Ein Theaterabend, der solche Gedanken hervorruft, hat es zweifellos in sich, auch wenn er gar nicht so leicht zu ertragen ist. Die etwas andere kathartische Erfahrung, nachher weniger zu kapieren als vorher, aber zugleich zu ahnen, dass es manchmal besser ist, nichts zu kapieren, verdanken wir Anna Drexler.
Mit dem Monolog „Erschlagt die Armen!“ hatte im Marstall ein großes Solo für diese großartige Schauspielerin Premiere, die erst kürzlich von den Kammerspielen ans Staatsschauspiel herüberwechselte. Und was die Drexler an diesem Abend vorführt, das ist nicht im mindesten spektakulär, aber dafür sensationell. Die faszinierende und auch rätselhafte Wirkung dieser jungen Schauspielerin besteht ja darin, dass sie ihren Figuren eine Dringlichkeit gibt, als ginge es um Leben und Tod – aber gleichzeitig scheint sie immer auch eine hauchzarte amüsierte Distanz zur Rolle zu zeigen. Diese leicht somnambul wirkende innere Spannung und Widersprüchlichkeit gibt ihrer Darstellung jene Anmutung des Offenlassens, der Brüchigkeit, die wirkliche Kunst von bloßer Könnerschaft unterscheidet.
Die Irritation des Uneindeutigen ist aber auch ideal für den Text, den sich Drexler zusammen mit dem Regisseur und Bühnenbildner Zino Wey vorgenommen hat: „Erschlagt die Armen!“ heißt, mit einem Baudelaire-Zitat, der Erstlingsroman der indisch-französischen Autorin Shumona Sinha, der 2011 europaweit Skandal machte. Er handelt von einer Inderin, die (wie die Autorin) an der Sorbonne studierte und quasi als etablierte und privilegierte Immigrantin in der Pariser Ausländerbehörde arbeitet, für die sie bei Anhörungen der Asylbewerber übersetzt. Eines Abends schlägt sie in der Metro einem Migranten eine Weinflasche an den Schädel. Warum?
Eben das ist auch am Ende nicht klarer als zuvor, obwohl die Täterin in einem mäandernden, assoziativen, unzusammenhängenden Monolog diese Frage zu umkreisen scheint. Sie erzählt vom Irrsinn eines Systems, das nur religiöse und politische Verfolgung als Asylgrund anerkennt, aber nicht das für Europäer unvorstellbare Elend, dem die meisten Flüchtlinge zu entkommen suchen. Weshalb sie bei den Anhörungen notgedrungen Lügen auftischen, immer die gleichen Geschichten, die auf Dauer Aggressionen bei der Übersetzerin hervorrufen – so wie das mittelalterliche Frauenbild vieler dieser Flüchtlinge. Sie erzählt von ihren Versuchen, sich bei kurzen Sexabenteuern mit französischen Männern abzulenken, aber auch von ihrer heimlichen Liebe zu einer Beamtin, mit der sie oft zusammenarbeitet.
Meist spricht Anna Drexler den Monolog gefasst, ohne große Gesten, aber mit flirrender Intensität. Langsam und lautlos, wie auf rohen Eiern bewegt sie sich im Sportdress auf einer Schräge, über der unzählige schwarze Kopfhörer hängen. Aus ihnen zirpt, pfeift, quakt leise der unaufhörliche Tinnitus eines inneren Stimmengewirrs. Und man beginnt zu ahnen, dass wir alle noch längst nicht begriffen haben, was geschieht in unserer Welt, in der die „Migration“ längst globalisiert ist. Nachdenklicher Beifall. Alexander Altmann
Nächste Aufführungen
morgen und am 13. März; Telefon 089/ 21 85 19 40.