98 Prozent Auslastung – und das in der Tanz-Sparte der Bayerischen Staatsoper! Trumpf also für Igor Zelensky, der 2016 nicht unbedingt einhellig hier willkommen war. Man traute dem ehemaligen russischen Star-Ballerino, wenn auch mit Leitungserfahrung in Nowosibirsk und im Moskauer Stanislavsky-Ballett, nicht die Navigation des großen Dampfers Staatsballett zu. Ein Fehlschluss? Fazit nach eineinhalb Spielzeiten: Bis hierhin geht sein pragmatisches Konzept auf. Er bringt das, was das hiesige (Opern-)Publikum sehen will: Handlungsschwergewichte wie seine (bis jetzt) drei Münchner Premieren „Spartacus“, „Alice im Wunderland“ und „Anna Karenina“; plus, neu durchgemischt, die schon seit Jahrzehnten im Repertoire befindlichen großen (neo-) klassischen Erzählwerke. 2018/19 sind es unter anderen John Neumeiers „Nussknacker“ und „Kameliendame“, John Crankos „Onegin“ und „Raymonda“ von Ray Barra nach Petipa.
Alle, flapsig gesagt, fast schon zum Mittanzen oft gesehen. Positiv zu Buche schlägt, dass alle Wiederaufnahmen merkbar aufgefrischt sind durch die hohe technische Qualität des in der 18-jährigen Ära Ivan Liška etwas ermüdeten Staatsballetts; und, ja, auch wieder sehenswert sind durch andere Gesichter, neue Persönlichkeiten im Ensemble. Bei der Rollenbesetzung – Zelenskys Hauptaugenmerk, wie er selbst sagt – ist er jedoch offenbar noch am Herumprobieren. So sieht es jedenfalls aus, wenn ein Solist quer durchs laufende Repertoire getestet wird, andere dagegen selten und/ oder unter ihrem Niveau besetzt werden. Das muss nicht, aber könnte ein Grund sein, warum (Demi-)Solisten wie Wentao Li, Elizaveta Kruteleva und Tatiana Tiliguzova – laut offizieller Version „aus familiären Gründen“ – sich schon nach der ersten Saison verabschiedeten. Zelensky macht den Abwandernden keine Schwierigkeiten. Er hat sich notgedrungen auf Flexibilität eingestellt. Denn gleich bei seinem Amtsantritt sind Solisten kurzfristig abgesprungen. Mögliche Gründe: die vor allem für Ausländer komplizierten deutschen Verträge mit beträchtlichen Steuern bei hohen Gagen. Zelensky sorgte schnell für Nachschub – entweder durch Neuengagement oder durch hauseigene Beförderung. Die Österreicherin Prisca Zeisel und der Kasache Erik Murzagaliyev, beide Demi-Solo, stiegen eine Stufe höher.
Trotzdem sind es in der Riege der Ersten Solisten nur drei Damen, aber sechs Herren. Was sich zum Ende der Saison zahlenmäßig etwas ausgleicht: Auf Publikumsliebling Tigran Mikayelyan, seit 2005/06 eine ganz besondere Farbe im Ensemble, wird man hinfort verzichten müssen. Nach über 40 Rollen hätte der Armenier eine Abschiedsvorstellung verdient. Bedauern und ziemliches Unverständnis auch, dass der 2016 als Erster Solist engagierte Alejandro Virelles – besetzt bis jetzt nur im „Giselle“-Pas-de-six und als Hortensio in „Zähmung“ – hier so gar nicht seine kubanische klassische Schule zeigen konnte. Wir fragen nach, warum? Als Antwort verlautet aus dem Ballett-Büro lediglich, dass Virelles im Herbst zum Staatsballett Berlin wechselt. Aber insgesamt habe sich „das Ensemble nun gefunden“.
Am 14. April startet die diesjährige Ballettwoche im Nationaltheater mit dem neuen modernen Dreiteiler „Portrait Wayne McGregor“. Wegen des aktuellen Probenstresses beantwortete Igor Zelensky einige Fragen zumindest schriftlich. Warum nur eine Premiere in der kommenden Saison? Hat George Balanchines „Jewels“ (Premiere 27. Oktober) das Budget schon aufgebraucht? Der Balanchine-Trust vergibt den abendfüllenden abstrakten Dreiteiler von 1967 garantiert nicht zum Sonderpreis. Nein, so Zelensky ausweichend, es seien mit den „Jungen Choreografen“ (am 20. Juni 2019) ja zwei Premieren. Was nicht so ganz richtig gerechnet ist. Denn mit diesem „jungen“ Abend, traditionell im Prinzregententheater, sind es in dieser Saison drei Premieren. Die Förderung junger Talente ist auf jeden Fall zu begrüßen. Gleichzeitig ist sie kostengünstiger. Zelensky, kein Zweifel, muss sparen.
Eine finanzielle Extra-Belastung, wenn auch künstlerischer Zugewinn, sind wohl die „ständigen Gäste“ Natalia Osipova, Maria Shirinkina, Sergei Polunin, Vladimir Shklyarov und Matthew Golding. Anzunehmen, dass aus diesem Grund eine Star-bestückte Ballettwochen-Gala ausfällt. Dafür soll die Festwoche 2019 „eine andere Färbung“ bekommen. Versprochen sind „weltbekannte Gäste an der Seite des Staatsballetts in abendfüllenden Balletten“. Zelensky kann da neben den nicht immer ausreichenden staatlichen Mitteln auf private Hilfe zählen. „Erst kürzlich durften wir uns über einen neuen Förderer freuen“, teilt er mit.
Erfreulich ist auch, dass Zelensky mit der McGregor-Premiere in der anstehenden Ballettwoche zum ersten Mal einen modernen Abend wagt. Das Staatsballett muss nicht forciert der freien Szene Konkurrenz machen. Aber zeitgenössische Tendenzen sollten das (neo-)klassische Repertoire ergänzen – auch im Hinblick auf ein jüngeres Publikum. Genau dieses hat Intendant Serge Dorny für seine Opéra de Lyon gewonnen, nicht nur im Bereich von Oper und Konzert. Seit Jahren lässt er ausschließlich modernen und zeitgenössischen Tanz pflegen. Wenn er 2021 Staatsopernintendant Nikolaus Bachler ablöst, sind größere Veränderungen zu erwarten. Wie verhält sich Zelensky zum Leitungswechsel? „Serge Dorny muss sich erst mal über unser Repertoire informieren. Eine Zusammenarbeit mit ihm und seinem Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski kann ich mir gut vorstellen. Wir werden uns bald zusammensetzen“, so Zelensky erstaunlich direkt, mit dem Nachsatz: „Jetzt freue mich über die erfolgreiche und konstruktive Zusammenarbeit mit Herrn Bachler, mit dem ich noch drei Spielzeiten gemeinsam tätig sein werde.“