Seit Bestehen des Münchner Literaturhauses hat Martin Walser (91) alle seine Buchpremieren dort gefeiert. So jetzt auch das aktuelle Werk „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ (Rowohlt Verlag; wir berichteten). Mit fortschreitendem Lebensalter scheint seine Produktivität eher zu- als abzunehmen. Neu ist die Geschichte nicht gerade. Ein Mann zwischen zwei Frauen. Das gab’s einige Male zu lesen. Auch Walser selbst hat sich dieser Konstellation schon mehrfach angenommen.
Ein Blog-Roman ist es geworden, in dem ein vom Leben und der Liebe gebeutelter Mann E-Mails an die titelgebende „unbekannte Geliebte“ schreibt, eine dritte Frau in der eingangs erwähnten Beziehungs-Zwickmühle. Es ist ja längst ein Lebensthema des Walser’schen Schaffens geworden, dieses Beschreiben der unlösbaren Aufgabe, verheiratet zu sein. Die Ehefrau zu lieben, das Aufgehobensein in der Familie zu schätzen, gleichzeitig aber auch frei sein zu wollen und echter, ungezügelter Leidenschaft frönen zu können. Dass sich das nicht sonderlich gut miteinander vereinbaren lässt, zeigt Walser immer wieder. Neu ist in „Gar alles“ nun die imaginierte Dritte, an die er schreibt. Das muss jene Frau sein, die alles toleriert und versteht, auch sein unablässiges Bemerken aller anderen Frauen um sich herum.
Denn dieser alternde Jurist, der sich hier offenbart, nimmt alle Weiblichkeit um sich herum mit präzisem Blick auf. Er betrachtet die allgegenwärtigen „steilen Brüste“ sehr gerne. Er sieht alle diese „braun getönten Beine“ in den „knappen Shorts“ und immer wieder die „gleißenden Schenkel“, die ihm dann auch zum Problem werden. Denn aus dem honorigen Oberregierungsrat wird an einem launigen Opernabend, ausgerechnet in der Pause von „Tristan und Isolde“, ein altersgeiler Grapscher, über den sich die Öffentlichkeit rasch ein so einhelliges wie scheinheiliges Urteil bildet. Daraufhin flüchtet der Mann in eine angebliche Alzheimer-Erkrankung, eine hübsch dotierte Frühpensionierung und eben den fiktiven Briefwechsel.
Im Gespräch mit Denis Scheck, Moderator der ARD-Sendung „druckfrisch“, zeigt sich Walser im Literaturhaus deutlich verwundert darüber, dass man „Gar alles“ nun zum Beitrag des Großschriftstellers zur #MeToo-Debatte stilisiert: „Das ist jetzt gerade diese Zeit. Aber ich sage mal optimistisch: Die #MeToo-Debatte geht vorbei, und dann gibt’s das Buch immer noch.“ Auch wenn Walser den Roman schon lange vor der öffentlichen Diskussion zum Thema begonnen hatte und nun eher zufällig in dieses Fahrwasser hineingerät, ist seine Haltung klar: „Alle diese Machtausübungen von Männern gegenüber Frauen sind doch das Scheußlichste überhaupt.“ Sein auf Abwege geratener Oberregierungsrat ist keiner, der Frauen Gewalt antut. „Gewalt kommt in meinen Romanen nicht vor“, betont Walser energisch. „Meine Figuren sind alle Verführte, es gibt keine Verführer. Das war schon immer so.“
Das Schreiben ist für den nach wie vor überaus rege wirkenden Walser ganz offensichtlich ein Lebenselixier. Anfangs plauderte er mit Denis Scheck munter über seinen Freund Uwe Johnson (1934-1984) und die Kraft des Dialekts. Erschienen ihm die Fragen von Scheck zu banal, stellte er sich gerne einmal schwerhörig. Andere Alterserscheinungen jenseits des Gehstocks in der Ecke nahm man kaum wahr. Auch wenn Walser selbst betonte, dass er nun erstmals mit Lesebrille auftreten müsse.
Das veranlasste Scheck sofort zu Fragen über den Tod, die Walser in üblicher Manier abbügelte. Es gebe schließlich nur das Sterben und nicht den Tod, dem man sich im fortschreitenden Alter nähern würde. Früher habe er gedacht, man komme zum Lebensabend hin dem Sterben näher. „Aber das Sterben ist immer gleich unzumutbar, egal ob man mit 30, 60 oder 90 Jahren stirbt.“ Man müsse sich halt irgendwann einmal mit dem Thema auseinandersetzen, „so wie man über seine Verdauung nachdenkt, denkt man eben auch über das Sterben nach“.