Ein Kuss für die Partitur

von Redaktion

Gottfried von Einem wäre heuer 100 Jahre alt geworden – die Salzburger Festspiele ehrten ihn mit einer Aufführung von „Der Prozess“

von tobias hell

Zum Abschluss ein Kuss für die Partitur! Das erlebt man nicht alle Tage. Doch bei HK Gruber wirkte diese Geste keineswegs pathetisch oder peinlich inszeniert. Vielmehr schien es, als werde da einem inneren Drang Ausdruck verliehen nach der bejubelten Festspiel-Aufführung von Gottfried von Einems „Der Prozess“ in der Salzburger Felsenreitschule.

Eine Zuneigung, die dem ehemaligen Einem-Schüler aber auch zuvor überdeutlich anzuhören war. Denn mit dem musikalischen Grenzgänger Gruber hatte man genau den richtigen Mann am Dirigentenpult, um die vor 65 Jahren an gleicher Stelle aus der Taufe gehobene Kafka-Vertonung wieder ins Gedächtnis des Publikums zu bringen. Umso bedauerlicher, dass sich die Festspiele zum 100. Geburtstag ihres ehemaligen Kuratoriumsmitglieds lediglich für eine einzige konzertante Wiedergabe erwärmen konnten.

Sicher, die durchweg tonal gehaltene und rhythmisch akzentuierte Partitur geht – zumindest was den Orchesterpart betrifft – mit ihren Anklängen an Strauss, Wagner und Strawinsky sowie einer köstlichen Hommage an Billie Holiday runter wie Öl. Was zu einem nicht unerheblichen Teil das Verdienst des süffig musizierenden Radio-Symphonieorchesters Wien ist.

Doch merkte man dem textlastigen Werk ebenso stark an, dass Einem keineswegs nur kulinarisch, sondern ebenso mit der szenischen Aktion im Hinterkopf komponierte, die hier durchaus eine zusätzliche Ebene einziehen könnte beziehungsweise dies manchmal sogar müsste. Reduziert aufs rein Akustische wirkte manche Episode nämlich aus heutigem Blickwinkel fast schon zu gemütlich für Kafkas Albtraumwelten, für die später etwa ein Aribert Reimann ganz andere, abgründigere Klänge fand.

Gönnen würde man es in erster Linie aber auch dem exzellenten Sängerensemble, dass es nach dem Lernaufwand nicht bei dieser einmaligen Angelegenheit bleibt. Vor allem Michael Laurenz leistete in der Rolle des (unschuldig?) verhafteten und letztlich an einem undurchschaubaren System scheiternden Josef K. Herausragendes. Wer hier nur den auf CD verewigten und sonst vor allem für schwere Wagner-Helden gebuchten Uraufführungs-Darsteller Max Lorenz im Ohr hatte, musste sich zunächst ein wenig umstellen. Doch lieferte der bislang aufs lyrische und Buffo-Fach abonnierte Laurenz mit prägnanter Artikulation und geschmeidiger Höhe einen mehr als überzeugenden Gegenentwurf, der womöglich noch eine Spur näher an Kafkas Vorlage war als sein Salzburger Vorgänger.

Auch wenn er rein von der Anzahl der Noten her am meisten zu leisten hatte: Allein musste Laurenz den Abend nicht tragen. Auch in den Nebenrollen galt es, so manches skurrile Rollenporträt zu entdecken: zum Beispiel Jörg Schneider als die Klischees genüsslich bedienender Maler Titorelli oder Johannes Kammler als scharfzüngiger Advokat.

Ilse Eerens hatte in der zentralen weiblichen Partie gleich in vier verschiedene Charaktere zu schlüpfen, wobei man sich von ihrem leichten und durch alle Lagen sicher geführten Sopran gerne noch ein paar Farben mehr gewünscht hätte, um die einzelnen Rollen klarer voneinander zu unterscheiden. Das gelang etwa Jochen Schmeckenbecher, der mit wandlungsfähigem Bariton ein ähnliches Pensum zu erfüllen hatte.

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