Ach, so eine magische Blume wäre doch manchmal wahrlich zauberhaft. Ein paar Tröpfchen ihres süßen Safts im Schlaf aufs Lid geträufelt – und mit dem Erwachen erwacht auch die Leidenschaft für die erste Person, die das Auge erblickt. So kann aus Hass Liebe werden. Bräuchten wir mehr von diesem Shakespeare’schen Blütensaft in Zeiten, in denen der Ton in politischen Debatten rauer, die Aggressivität gesellschaftlichen Randgruppen gegenüber stärker wird? Kieran Joel schmunzelt. „Nee. Ich glaube sogar: Die Blume ist eher das Problem unserer Zeit. Wir sind so vernebelt durch alles um uns herum, dass wir gar keinen Zugang mehr zu unserer Gefühlswelt haben und nicht mehr verstehen, wie wir eigentlich funktionieren.“ Jedes Like auf Instagram, jede Freundschaftsanfrage bei Facebook, jedes Kompliment für ein neues WhatsApp-Bild seien ja kein Ausdruck von echter Liebe oder Begehren. Sondern? Lenken davon ab, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Klingt ganz schön kulturpessimistisch. „Oh Gott, bitte nicht!“, ruft der 34-jährige Regisseur gespielt entsetzt. „Ich finde, Kulturpessimismus ist eine völlig schlimme Eigenschaft. Kulturpessimismus und zu viel Romantik – die einen sagen, alles wird eh schlecht, die anderen, alles wird eh gut. Ich bin für den rationalen Mittelweg.“
Vielleicht deshalb wieder Shakespeare. Die vergangene Spielzeit am Volkstheater hat Joel mit „Romeo und Julia“ begonnen, jetzt nimmt er sich den „Sommernachtstraum“ vor. Am Sonntag ist Premiere. Warum Shakespeare? Weil er sich nicht auf eine Sicht auf die Dinge festlegen lässt. „Shakespeares Texte funktionieren so universell, weil er so schlau konstruiert. Mal lässt er die Menschen naiv über die Liebe sprechen, andere Figuren haben dann wieder einen radikalen Klarblick auf das Thema. Es gibt nicht die eine Shakespeare-Position.“
Lange bevor Freud daherkam, habe Shakespeare die menschliche Psyche genau analysiert. „Das ist unglaublich, die menschlichen Dynamiken, die darin stecken. Die so felsenfest, so universell gültig sind. Er hat da eine Matrix des menschlichen Seins gefunden. Die kann man natürlich an manchen Punkten umdrehen oder neu befragen, aber die ist von solch einem Fundament.“ Joel selbst wagt voll Leidenschaft, sie neu zu befragen. Wobei er es gar nicht „wagen“ nennen würde. „Ich glaube, es ist eine Sache von Respekt dem Künstler gegenüber, dass ich seinen 500 Jahre alten Text benutze und versuche, Wahrheiten, die er da spricht, in unsere Zeit zu holen.“
Im Falle vom „Sommernachtstraum“, dieser großen Geschichte über menschliches Begehren, hat sich Joel vier Albtraumperspektiven ausgedacht. Indem er alle vier Protagonisten nacheinander denselben Text sprechen lässt, lässt er sie alle einmal den schlimmsten Moment in der Liebe überhaupt erleben: das Abgewiesen-Werden. „In Liebschaften ist es doch immer dasselbe: Einmal bist du derjenige, der begehrt, und fühlst dich klein, einmal wirst du begehrt, und fühlst dich groß. Natürlich kannst du auf deinen Stalker, der sagt, ich kann nicht ohne dich leben, herabblicken. Aber kann man nicht auch aus seiner Perspektive sagen, wie grausam es von dir ist, ihn anzulocken?“ Nein, wir brauchen heute keine Blume mit Lockstoffen, die den anderen vernebeln. „Ich glaube, was wir brauchen, ist Perspektivverschiebung. Empathie. Den Versuch zu verstehen, wie die Mitmenschen auf die Welt gucken.“ Als Regisseur hält Joel es für die Aufgabe von Theater, hinter die Wirklichkeit zu schauen. „Das ist ja eine Hollywood-Angelegenheit, dieses Aufrechterhalten eines wohligen Gefühls. Im Theater müssen wir manchmal an die Orte, wo es etwas wehtut.“
Gemeinsam. In zackigen 90 Minuten ohne Pause. „Heute, wo wir uns bemühen, uns immer weiter auszudifferenzieren und immer individueller zu werden, ist es doch gerade schön, etwas zu erzählen, bei dem alle mit der gleichen Aufmerksamkeit draufgucken und verstehen, wir sind irgendwie gleich. 90 Minuten Aufmerksamkeit. Das ist heute schon sehr viel wert, oder?“
Und danach gern auf Instagram ein Foto posten. Nix mit Kulturpessimismus. „Eigentlich einigen sich alle darauf, wie furchtbar schlecht diese Sozialen Netzwerke sind. Aber dann sind wir doch alle drin“, amüsiert sich Joel. „Und warum auch nicht? Das ist eine Form von Vernetzung, über die man mit Menschen, die sonst wahrscheinlich in Vergessenheit geraten würden, schnell in Kontakt treten kann. Die sind irgendwie aufgefangen in der ,Freundesliste‘. Die sind immer irgendwie bei mir. Das kann man ja auch ganz positiv nehmen.“ Sagt er, der Kulturrationalist.
Premiere
am Sonntag, 19.30 Uhr; Restkarten an der Abendkasse.