Der landläufige Begriff von Natur ist ein Irrtum. Denn als „Natur“ bezeichnen wir heute meist nicht das Erdbeben oder die Blinddarmentzündung, sondern vielmehr die vertraute, gefahrlos zu durchwandernde Landschaft. Gerade diese Landschaft aber ist wenigstens in Europa eben keine eigentliche Natur mehr, sondern – wenn man von Hochgebirgsregionen absieht – eine dezidiert vom Menschen geformte und veränderte Kulturlandschaft.
Dass sie wie jede kulturelle Hervorbringung auch eine historische Quelle darstellt, haben Geschichtswissenschaftler lange übersehen. Dabei kann man just bei der Auswertung dieser Quelle das Nützliche sehr schön mit dem Angenehmen verbinden, wie uns jetzt Arnold Esch vorführt. Der langjährige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom nimmt die Leser in seinem Buch „Historische Landschaften Italiens“ mit auf „Wanderungen zwischen Venedig und Syrakus“. Dabei sind es besonders räumliche, zeitliche und geistige Übergangsbereiche zwischen Antike und Mittelalter, die den Autor interessieren. Etwa wenn er der spannenden Frage nachgeht, wie die antiken Überreste, die es in der italienischen Landschaft ja zuhauf gibt, im früheren Mittelalter wahrgenommen wurden.
Aber auch wie nahe Vergangenheit und Gegenwart sich kommen können, macht dieses anregende Buch deutlich. Wer heute beispielsweise durch Venedig spaziert, wird kaum an die aktuellen Fluchtbewegungen denken, die in der öffentlichen Debatte so breiten Raum einnehmen. Denn man kann sich tatsächlich nur schwer vorstellen, dass diese prächtige Stadt eigentlich aus Not und Bedrängnis heraus entstand, ja dass sie das Resultat einer Fluchtbewegung ist: Einem venezianischen Mythos zufolge war es Attila mit seinen Hunnenhorden, vor dem die Festlandbewohner Venetiens um das Jahr 452 in die schwer zugängliche Lagune flüchteten, um dann dort zu siedeln. Die Wahrheit, so berichtet Esch, sieht jedoch etwas anders aus – und ist nicht schmeichelhaft für unsere germanischen Urahnen. Denn die große Fluchtbewegung in die Lagune wurde nicht durch die Hunnen, sondern erst hundert Jahre später durch den Einfall der Langobarden ausgelöst.
Dass Arnold Esch den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa bekommen hat, erstaunt nicht. Er verbindet umfassende historische Kenntnisse mit dem Talent zur farbigen und anschaulichen Schilderung. So beschreibt er etwa die Lagunenlandschaft als „amphibische Welt, die in ihrem Gemenge von Erde, Schlamm und Wasser, Vögeln und Fischen, Land- und Wasserpflanzen den dritten Schöpfungstag, die Trennung von Erde und Wasser, noch zu erwarten scheint“.
Es ist dieser halb poetische, halb gelehrte Sinn für die Symbolkraft landschaftlicher Gegebenheiten, der Arnold Eschs Betrachtungen so vergnüglich macht. Dabei führt er uns nicht nur aufs Wasser, sondern hoch hinaus. Als Bergführer zeigt er uns – mit Querverweis auf die Tannhäuser-Sage – den Monte Sibilla im Apennin, wo der christlichen Legende nach eine antike Sibylle als Zauberkönigin mit schönen Damen Hof hält und menschlichen Wanderern sehr irdische Freuden schenkt. Dass viele der Beschenkten gar nicht mehr aus dem Berg herauskamen, ist nur zu „natürlich“.
Arnold Esch:
„Historische Landschaften Italiens“. Beck, München, 368 Seiten; 29,95 Euro.