Die Familie formt einen Menschen zur Person. Eltern und Geschwister können liebevoll sein oder brutal, fürsorglich oder egoistisch, sie haben füreinander nur das Beste im Sinn oder nutzen einander gnadenlos aus. Interessant wird es vor allem dann, wenn aus ein und derselben Familienkonstellation so fundamental unterschiedliche Charaktere hervorgehen, dass man sich nicht nur als Außenstehender fragt, wie, an welchem Punkt und unter welchen Umständen sich ein Mensch in jene, ein anderer in eine so vollkommen andere Richtung entwickeln konnte.
Eine solche Familie nimmt die Britin Susan Hill in ihrem Roman „Stummes Echo“ unter die Lupe. Auf einem einsamen Hof im ländlichen England wachsen nach dem Zweiten Weltkrieg vier Geschwister auf: Colin, Frank, May und Berenice. Während Colin und Berenice dem Leben auf dem Hof rasch entwachsen, ihm den Rücken kehren und auf ihre Weise ihr Glück finden, fällt es May und Frank deutlich schwerer, sich vom Heimatort zu lösen: Frank bleibt dem Hof zumindest mental eng verbunden, May auch physisch.
In Erzählungen, die sich um komplizierte familiäre Beziehungen ranken, müssen die Eltern meist erst tot sein, damit die Kinder sich ihrer Vergangenheit stellen. So auch hier: Jahre nach dem Vater stirbt die Mutter und hinterlässt neben dem heruntergekommenen Hof vier erwachsene Kinder, die weder mit dem Anwesen noch mit den Geschwistern viel anzufangen wissen. Nun bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich mit beidem auseinanderzusetzen. Susan Hill entwirft das Psychogramm einer Familie, die, obgleich sorgfältig analysiert, seltsam rätselhaft ist. So stellen sich zum Schluss einige Fragen: Können dieselben Kindheitserfahrungen auf krass entgegengesetzte Weise erinnert werden? Was genau ist zu welchem Zeitpunkt schiefgegangen? Ein nachdenklicher, unaufgeregt erzählter, zuletzt beinahe unbefriedigender und dennoch faszinierender Roman.
Susan Hill:
„Stummes Echo“. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Gatsby, Zürich, 165 Seiten; 18 Euro.