Ob der Mensch, der einst schnöden Tesafilm auf die schwarz lackierte Sitzfläche klebte, ahnte, dass er einen Mart-Stam-Stuhl B 43 verunstaltet? Die Sitzgelegenheit aus verchromtem Stahlrohr wurde in den Dreißigern bei Thonet produziert. Dieselbe Frage möchte man übrigens auch dem einstigen Besitzer des Freischwingers MR 533 stellen: Wusste er, dass sein Kaffee auf ein Möbel tropfte, das Ludwig Mies van der Rohe 1927 entworfen hatte? Die Flecken jedenfalls sind – wie auch die Tesa-Rückstände auf dem B 43 – bis heute unübersehbar.
Frevel? Nein! Denn die Gebrauchsspuren erzählen jetzt in Münchens Pinakothek der Moderne ihre eigene Geschichte. Die handelt davon, dass diese Objekte, die hier beeindruckend elegant präsentiert werden, zum Alltag gehört haben. Auf dieser Kunst wurde gesessen, gefläzt, gearbeitet, gesoffen, gelesen, geflirtet, gestritten – kurz: Die Stühle waren Teil des Lebens in allen Facetten.
Längst sind sie museumsreif und nun Teil einer herrlichen Schau. Vor 200 Jahren gründete Michael Thonet (1796-1871) sein Unternehmen, das bis heute in Familienhand ist. Der Tischlermeister wurde im rheinischen Boppard geboren und lebte seit 1842 in Wien – dort legte er 1859 mit dem Kaffeehaus-Stuhl den Grundstein für den Erfolg seiner Firma. Die Neue Sammlung – The Design Museum besitzt mit rund 400 Objekten eine der weltweit größten Kollektionen von Thonetmöbeln. Das Jubiläum des inzwischen im hessischen Frankenberg beheimateten Unternehmens hat das Haus nun zum Anlass genommen, um seine Schätze neu zu inszenieren.
Der Münchner Produktdesigner Steffen Kehrle hat das mit den Kuratoren Xenia Riemann-Tyroller und Josef Straßer übernommen. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Schönheit der 200 Jahre zu zeigen“, erklärt Kehrle. Das ist gelungen: Auf vier Ebenen wie im Amphitheater oder Hörsaal werden die Stühle großzügig präsentiert. Jeder einzelne bekommt ausreichend Licht und Raum, um zu wirken – ganz so, wie in anderen Museen Gemälde oder Skulpturen ausgestellt werden.
Der Ansatz ist nicht übertrieben. „Alles hat seine Halbwertszeit – Thonet anscheinend nicht“, sagt Kehrle. Wer die chronologisch aufgebaute Ausstellung entlangläuft, erkennt, was er damit meint. Der älteste Stuhl entstand 1838/40 – und wirkt doch ähnlich zeitlos wie der jüngste aus dem vergangenen Jahr. „Thonet hatte immer den Anspruch, zeitgenössisch zu gestalten“, erklärt Kurator Straßer. Um dem gerecht zu werden, ist die Firma auch technisch neue Wege gegangen. So hat ihr Gründer das Bugholzverfahren durchgesetzt. Unter Wasserdampf wird das Material – meist Buche oder Ahorn – gebogen; ideale Grundlage für die Serienproduktion. Die Bestellung via Katalog statt wie bis dato per Auftrag beim Schreiner sorgte dafür, dass Thonet weltweit exportieren konnte – bis zum Ersten Weltkrieg wurden mehr als 1400 Modelle offeriert. Was im 19. Jahrhundert das Bugholz war, fand in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts seine Analogie im gebogenen Stahlrohr. Bauhaus-Künstler wie Marcel Breuer oder eben Ludwig Mies van der Rohe entwarfen die Möbel.
Bei aller Zeitlosigkeit im Design erzählen diese Sitzgelegenheiten doch viel über ihre Entstehung. Und natürlich ist es Zufall, dass sie in der Neuen Sammlung nun auf eine Tür ausgerichtet sind. Die ist zwar verschlossen. Trotzdem scheint es, als würden alle Stühle darauf warten, dass sie sich öffnet und Menschen hereinströmen. Um Platz zu nehmen.
Bis 2. Februar 2020
Di.-So. 10-18 Uhr, Do. bis 20 Uhr,
Katalog: 29,80 Euro; Telefon 089/ 27 27 25 0.