Filmemacher, Schriftsteller, Chronist unserer Zeit – Alexander Kluge ist fraglos einer der letzten Universalgelehrten mit einem schier unendlichen Wissens- und Schaffensdrang und einem jetzt schon kaum überschaubaren Œuvre. Umso erstaunlicher eigentlich, dass es bisher keine Werkschau Kluges in München gab. Und das, obwohl er seit 1958 in der bayerischen Landeshauptstadt lebt und nach eigener Aussage sogar den Stachus gut findet.
Das Literaturhaus widmet Kluge unter dem Titel „Pluriversum. Die poetische Kraft der Theorie“ endlich eine große Ausstellung. Die sah man in leicht veränderter, knapperer Form bereits im Folkwang-Museum Essen und im Belvedere in Wien. Für München kam viel Neues dazu, betont Kluge. Die Bilder und Filmaufnahmen zum Thema Turm in der Wüste und den Gedanken zum Leuchtturm, dessen Leuchtfeuer durch die Nacht strahlt, entstanden erst vor 14 Tagen, erzählt er.
Zu den Filmsequenzen des Leuchtturms stellt der Künstler die Formeln der Heisenberg’schen Unschärfe-Relation. Auf diese Weise funktioniert die ganze Schau: In sechs abgetrennten Räumen und zusätzlich arrangierten Ecken präsentiert das Literaturhaus Kluges Sammlungen. Anfangs erschreckt einen die schiere Fülle an Exponaten ein wenig. Hier eine Flaschenpost mit Adorno-Bezug. Dort ein Merksatz wie „Wo du nicht lieben kannst, da gehe vorüber“ auf dem Parkett.
Es dauert, ehe man sich zwischen den mit den Sternenkonstellationen des Weltalls bemalten Wänden und den über den Ausstellungswänden angebrachten Diaprojektoren und Videofilmen zurechtgefunden hat. Dann allerdings lässt einen diese Exposition nicht mehr los – und begeistert von Minute zu Minute mehr. „Sie dürfen nicht den Ehrgeiz haben, alles bei einem Besuch gesehen zu haben“, bestätigt Literaturhaus-Chefin Tanja Graf die Vermutung. „Diese Ausstellung ist eine, in die man immer wieder kommen kann und etwas Neues entdecken wird.“ Sogar als Kluge-Fan.
„Denkwerkstatt“ nennt der Meister selbst diese Schau. Das lässt sich auch an der Gestaltung des Raumes erkennen. Alles hat bewusst provisorischen, baustellen-haften Charakter: Absperrbänder sind aufgespannt, Metallstreben und Baugerüste sichtbar. Auf einem kleinen Tischchen im Bereich „Arbeitszimmer“ liegen Notizen Kluges wie zufällig hingeworfen und dann vergessen.
Eine sprunghaft-assoziative Wahrnehmungsflut breitet sich aus, je mehr Zeit man in der Schau verbringt. Und plötzlich ist man drin in Kluges geist- und anspielungsreichen Gedankenströmen. Die Bilder und Texte, von der Hündin Laika beim Thema Lebenszeit bis zu den passend zur Nach-Wende verhüllten Marx- und Engels-Fotografien von Kluges früherem Nachbarn Stefan Moses, lassen einen nicht mehr los. Die zusammengetragenen Ideen arbeiten im Betrachter weiter.
„Begehbare Bücher“ nennt Alexander Kluge die Denkkammern seines „Pluriversums“. Die reichen manchmal weit zurück in die Vergangenheit, zum preußischen Prinzen Louis Ferdinand zum Beispiel, der 1806 in der Schlacht von Saalfeld fiel. Sie befassen sich aber auch mit den massiven Veränderungen durch die Digitalisierung. „Mich hat es verblüfft, und ich hätte es 1989 nicht für möglich gehalten, dass wir heute schon in einer digitalen Welt leben“, bekennt Kluge. „Das ist eine unglaubliche Öffentlichkeit, die da zusammenkommt. Über Knopfdruck kann ich mit Menschen in China in Kontakt treten, das ist ja erst einmal auf jeden Fall etwas Großartiges.“
Ein Gegengewicht zu der zunehmend von Algorithmen bestimmten Computerwelt ist seiner Ansicht nach dringend notwendig: „Wir brauchen angesichts dieser Umwälzungen einen Gegen-Algorithmus der Künste. Wie damals am Ende der Renaissance in einer Art Wunderkammer. Literatur, Wissenschaft, Aberglaube, Lust, Musik – alles sollte dort zusammenkommen.“ Wie in Kluges „Pluriversum“ eben.
Informationen
30. Mai bis 29. September,
Mo. bis Fr. 10 bis 19 Uhr, Sa., So. und Feiertag 10 bis 18 Uhr;
Telefon 089/291 93 40.