Im Jahr eins nach dem Rücktritt von Gustav Kuhn werden bei den Tiroler Festspielen die Weichen neu gestellt. Ein nicht ganz leichter Spagat zwischen Tradition und frischen Konzepten, um Erl auch in Zukunft seinen Platz im sommerlichen Festival-Reigen zu sichern. So unter anderem mit Tina Laniks Neuinszenierung von Walter Braunfels’ „Die Vögel“. Ehe diese Rarität am 20. Juli auf die Bühne kommt, lockt zunächst mit Verdis „Aida“ ein echter Klassiker, bei dem man einen anderen Blickwinkel abseits eingefahrener Verona-Klischees verspricht.
Hatte der dirigierende und regieführende Ex-Chef Kuhn gerne alle Zügel in der Hand, präsentiert Interims-Intendant Andreas Leisner mit der „Aida“-Premiere an diesem Samstag eine Teamarbeit mit weiblicher Doppelspitze. Neben Regisseurin Daniela Kerck, die im eigenen Bühnenbild inszeniert, zieht vor allem Dirigentin Audrey Saint-Gil die Aufmerksamkeit auf sich. Wie viele Kolleginnen und Kollegen der jüngeren Generation bricht auch die Französin mit manchen Stereotypen und Bildern, die durch die großen, mitunter als unnahbar geltenden Pultstars etabliert wurden.
Oft wird Saint-Gil auf ihren schwarzen Gürtel in Taekwondo oder ihre Leidenschaft für Motorradrennen angesprochen. Und dafür wird schon mal auf einer PS-starken Maschine vor dem Erler Festspielhaus posiert. Mindestens ebenso leidenschaftlich wie über Sport kann man sich mit ihr natürlich auch über Musik unterhalten. „Verdi ist so etwas wie meine Spezialität. Und das, obwohl ich Französin bin und eigentlich nur für französisches Repertoire engagiert werden dürfte“, wie sie mit Augenzwinkern erzählt.
„Natürlich haben auch wir großartige Komponisten. Berlioz zum Beispiel. Aber richtig zu Hause fühle ich mich bei der italienischen Oper.“ Vor allem bei Verdi, mit dessen „Traviata“ sie im vergangenen Jahr ihr umjubeltes Italien-Debüt gab. Im Heimatland des Komponisten ein echter Ritterschlag. „Tradition ist gut, muss aber auf mehreren Ebenen geprüft werden. Zum Beispiel, wenn wir über improvisierte Spitzentöne reden. Die müssen sich instinktiv richtig anfühlen, harmonisch passen, vor allem aber einen dramatischen Sinn ergeben.“ Das gelte für die historischen Aufnahmen des gestrengen Arturo Toscanini ebenso wie für den berühmten Stunt der Callas, die im zweiten „Aida“-Finale ein fulminantes hohes Es hinzuerfand.
Für Audrey Saint-Gil lebt „Aida“ vor allem von den Kontrasten. „Natürlich gibt es die großen effektvollen Momente. Aber jeder, der sich näher mit dem Stück beschäftigt, weiß, dass es im Grunde ein Kammerspiel ist, das sich vor einem epischen Hintergrund abspielt.“ Dasselbe gelte für die Instrumentierung: ein großes Orchester, das gleichzeitig unglaublich filigran spielen müsse. „Darin liegt für mich Verdis Stärke. Es ist oft nicht der Spitzenton, der den Effekt macht, sondern die Stille, die danach folgt.“
Ideen, die vom international zusammengesetzten Erler Klangkörper, dessen sommerliches Pensum sich in diesem Jahr vom Belcanto bis ins 21. Jahrhundert erstreckt, interessiert aufgenommen werden. „Ich habe hier ein großartiges Orchester, ein Theater mit einer fantastischen Akustik und das alles auch noch in den Tiroler Bergen. Worüber sollte ich mich da beschweren?“
Saint-Gil, die sich ihre Sporen unter anderem in Los Angeles als Assistentin von James Conlon und Plácido Domingo verdient hat, genießt ihre Zeit in Erl. Und das nicht nur, weil man sich hier zwischendurch auch mal schnell aufs Motorrad schwingen kann. Es ist vor allem das Ensemble, das zu einer kleinen Familie auf Zeit zusammengewachsen ist. „Nach den ersten Proben gab es drei Wochen Pause, bevor es jetzt auf die Zielgerade ging. Und wir hatten alle schon richtige Entzugserscheinungen. Das ist immer ein gutes Zeichen.“
Premiere
an diesem Samstag;
die Erler Festspiele dauern bis 28. Juli; Infos unter
www.tiroler-festspiele.at.