Ach, die Deutschen und ihr Wald. Es sind ja nicht nur Bäume. Im Wald liegt die Wahrheit. Er symbolisiert Sehnsüchte und Ängste, ist ein Ort der Gefahren und Prüfungen. Hier wird der Mensch mit seinem Unbewussten, Animalischen konfrontiert – auf dass er daran reifen möge.
In Ödön von Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ (1937 in einem Amsterdamer Exilverlag erschienen) passiert im Wald alles: zügellose Liebe, heimtückischer Mord, grausame Feigheit. Ein Lehrer begleitet seine pubertierenden Schüler in ein paramilitärisches Zeltlager. Sie leben in totalitären Zeiten, alles Individuelle ist verpönt. Z, N, B, T – der österreichisch-ungarische Schriftsteller (1901-1938) hat den Pennälern nur die Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen gelassen: eine anonyme Masse von Mitläufern und Opportunisten. Sein Buch ist Gesellschaftsanalyse vor dem Hintergrund eines Kriminalfalls, denn einer der Burschen wird im Wald getötet.
Regisseur Thomas Ostermeier und sein Dramaturg Florian Borchmeyer haben Horváths Text jetzt für die Bühne adaptiert. Nach der Wiederaufnahme des „Jedermann“ ist „Jugend ohne Gott“ die zweite Schauspielproduktion dieses Salzburger Sommers; am Sonntag war Premiere im Landestheater. An Ostermeiers Berliner Schaubühne wird die Inszenierung im September herauskommen.
120 Bäume aus dem Grunewald hat Jan Pappelbaum für sein Bühnenbild an die Salzach gebracht. Dicht an dicht stehen die Stämme, Sébastien Dupoueys großartige Videoprojektionen scheinen mitunter das tote Holz zum Leben zu erwecken. Auf dem glatten Parkett vor diesem Wald schnurrt die Inszenierung dahin: Szenen-, Rollen-, Kostüm- und Requisitenwechsel funktionieren – getragen von einem spielfreudigen, präzise agierenden Ensemble – tatsächlich auf den Punkt.
Jörg Hartmann, den die „Tatort“-Fans als Dortmunder Kommissar Faber kennen, zeichnet den Weg des Lehrers von der Feigheit zur Wahrheit zur Emigration einfühlsam nach. Gemeinsam mit Laurenz Laufenberg als Pfarrer gestaltet er eine spannende Szene über die Frage nach dem Umgang der Kirche mit den Mächtigen. Lukas Turtur, lange Zeit am Münchner Residenztheater zu sehen, zeigt behutsam, dass der Richter ein Mann ist, der neben den Paragrafen auch seine Prinzipien kennt. Und Veronika Bachfischer beeindruckt durch ihre unaufgeregte Wandelbarkeit. Ja, es ist eine Freude, den acht Schauspielerinnen und Schauspielern bei ihrer Arbeit zuzusehen.
Allerdings hat der zweieinviertel Stunden lange Abend (keine Pause) ein echtes Problem: Die Stärke des Romans ist, dass Horváth zwar unter dem Eindruck des Nationalsozialismus geschrieben hat, ihn jedoch nicht benennt. Eben dieser Kunstgriff hebt „Jugend ohne Gott“ aus dem historischen Kontext der Entstehung und macht das Buch zeitlos. Denn der Autor seziert die individuellen und gesellschaftlichen Mechanismen, die eine totalitäre Diktatur ermöglichen. So zeigt er die Triebfedern des Faschismus auf: Faulheit, Feigheit, Opportunismus sind menschliche Schwächen und Abgründe, damals wie heute.
Für seine Festspielinszenierung zwingt Ostermeier die Geschichte jedoch ohne Grund in die Dreißigerjahre zurück. Wenn Jörg Hartmann sich zu Beginn von seinem Platz im Parkett erhebt, trägt er zwar Jeans und T-Shirt. Doch auf der Bühne angekommen, zitiert er aus einem Brief, den ein Braunschweiger Bürger 1935 an Hitler schrieb: „Was verdanke ich Adolf Hitler? Diese Frage ist leicht mit einem Wort zu beantworten – alles!“ Währenddessen wird Hartmann von seinen Kollegen neu eingekleidet, mit einem braunen Anzug im Stil der Zeit (Kostüme: Angelika Götz). Der Schauspieler ist nun – ebenso wie das übrige Ensemble – tatsächlich „verkleidet“. Damit historisieren Ostermeier und Borchmeyer ihre Arbeit jedoch unnötig und bringen sie auf Distanz zur Gegenwart.
Noch offensichtlicher wird das gegen Ende des Abends (dem einige beherztere Streichungen gutgetan hätten), als Hartmanns Lehrer mit einem seiner Schüler (Bernardo Arias Porras) über das Spannungsfeld von innerer Emigration und zivilem Ungehorsam debattiert. Dupoueys ansonsten so sensible Videoarbeit überflutet das Theater hier mit schwiemeligen historischen Aufnahmen roter Fahnen während eines NSDAP-Aufmarsches. In der Guido-Knopp-Ästhetik dieser Szene geht aber die Allgemeingültigkeit von Horváths Fragestellung völlig unter.
So kommt es, dass das vor 82 Jahren erschienene Buch sehr viel aktueller wirkt, mehr über unsere Gegenwart und ihre Debatten erzählt als Ostermeiers Inszenierung, die sich hinter der Historisierung des Stoffs vor einer wirklichen Auseinandersetzung mit diesem versteckt. Ja, im Wald liegt bis heute die Wahrheit – man muss sie allerdings ertragen können. Heftiger, herzlicher Applaus. Bravo-Rufe.
Weitere Vorstellungen
heute sowie am 1., 4., 7., 9., 10. und 11. August; Telefon 0043/662/8045-500. Premiere an der Berliner Schaubühne am 7. September.