Es ist ein weiter Weg, den Victor Dalmau geht. Gehen muss. Der junge Katalane hat gerade mit dem Medizinstudium begonnen, als in Spanien der Bürgerkrieg (1936-1939) ausbricht. Obwohl an Politik wenig interessiert, beschließt er, als Sanitäter die republikanische Armee zu unterstützen. Sein jüngerer Bruder sucht an der Front die Konfrontation mit Francos Armee. Beide stammen aus einer unkonventionellen Familie, die auf wundersame Weise auch noch zu einer Ziehtochter kommt: Roser entpuppt sich als musikalisches Genie, wird später eine anerkannte Pianistin und Orchesterleiterin und Bestandteil des Dalmau-Clans.
Ihrer aller Schicksal, im Besonderen aber das von Victor, ist Thema des neuen Romans von Isabel Allende „Dieser weite Weg“. Ja, der Weg wird lang und steinig. Als sich immer deutlicher abzeichnet, dass General Francisco Franco (1892-1975) als Sieger aus dem Gemetzel hervorgehen wird, ergreifen mehr als 500 000 Menschen die Flucht. Unter ihnen auch Roser und Carme, die Mutter Victors, und schließlich Victor selbst. Die Retirada führt nach Frankreich, das, heillos überfordert, die Menschen in notdürftigen und völlig unzulänglichen Lagern an der Küste unterbringt. Kälte, Hitze, Hunger, Krankheit und Tod – die Not der Flüchtlinge ist unbeschreiblich. Das Schicksal Victors hat nun ein Mann in der Hand, der damals schon weit über seine chilenische Heimat hinaus bekannt ist: Pablo Neruda (1904-1973). Er initiiert und organisiert die Reise für über 2000 Menschen nach Chile.
Neben ihm treten weitere historische Persönlichkeiten auf: Salvador Allende (1908-1973), der Onkel der Autorin, der bestialisch ermordete chilenische Sänger Victor Jara (1932-1973) und Pablo Picasso (1881-1973), dessen Gemälde „Guernica“ auf ganz eigene Art die Grauen des Spanischen Bürgerkriegs wiedergibt. Isabel Allende bringt selbst eine Menge eigene Erfahrungen ein, denn sie erlebte in ihrer chilenischen Heimat etwas Ähnliches.
Und das ist auch die Tragik ihres Victor. Der Mann, der dank Neruda in Chile neue Wurzeln schlägt, erlebt auch hier einen Staatsstreich des Militärs. Wieder muss der inzwischen erfolgreiche Arzt fliehen, dieses Mal vor den Schergen des neuen Diktators Augusto Pinochet (1915-2006). Victors Exil in Venezuela ist der Autorin nicht fremd: Nach dem Militärputsch ging sie dort mit ihrer Familie ins Exil, bevor sie nach Kalifornien zog, wo die 77-Jährige heute lebt. All das und die Nähe zu authentischen Helden, zu den Schauplätzen, zur Geschichte ihrer Familie und ihrem Bekanntenkreis machen das mit Wärme geschriebene Buch besonders. Dieses Opus Allendes hat nicht nur großen Unterhaltungswert, sondern im Gegensatz zu einigen ihrer früheren Bücher auch wieder die Tiefe früher Romane.
In einer Hinsicht ist sich die Autorin, deren Bücher über 51 Millionen Mal in 27 Sprachen verkauft wurden, treu geblieben: Erneut ist es ein Zeit und Raum sprengendes Werk, Epochen und Generationen umfassendes, grenzüberschreitendes Familienporträt – fesselnd und unwiderstehlich. „Dieses Buch hat sich von selbst geschrieben, als hätte es mir jemand diktiert“, sagt sie. Zwar sei es die aktuelle Flüchtlingskrise gewesen, die sie inspiriert habe. Die Geschichte der „Winnipeg“ aber, dem „Schiff der Hoffnung“, hörte Allende schon als Kind.
Isabel Allende:
„Dieser weite Weg“. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag, Berlin, 361 Seiten; 24 Euro