Das Buch des Jahres 2019 steht fest. Wenigstens was den Medienrummel im Vorfeld angeht. Verschwiegenheitsklauseln und Geheimhaltung allüberall. Zum weltweiten Verkaufsbeginn öffneten Buchläden aller Herren Länder bereits um Mitternacht. Hunderte Fans erschienen in Kostümen. Buchhändler sind in Sorge, ob ihre Bestände auch dem ersten Ansturm standhalten. Eine derartige Aufregung rund um die Fortsetzung eines Buches – das gab es zuletzt bei Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Bänden. Diesmal gilt der Wirbel einer beinahe achtzigjährigen kanadischen Schriftstellerin. Allerdings waren die Bücher Margaret Atwoods bislang selten bei Mitternachtsevents und Merchandising-Happenings, sondern zumeist in den Regalen der Hochliteratur zu finden gewesen.
Im Jahr 1985 veröffentlichte sie ihren Roman „Der Report der Magd“ über den fiktiven Staat Gilead, in dem im 22. Jahrhundert Frauen ihrer Identität beraubt und zu Gebärmaschinen für unfruchtbare Paare einer Herrscherkaste reduziert werden. Allein schon der offene Ausgang der Zukunftsparabel machte das Werk zum Kultbuch. Die Beschreibung einer Theokratie auf amerikanischem Boden avancierte schnell zu einem der dystopischen Klassiker des 20. Jahrhunderts, Seite an Seite mit Aldous Huxleys Selbstoptimierungsschocker „Schöne neue Welt“ oder George Orwells antitotalitärem „1984“.
Der Roman erzählt aus der Perspektive der Magd Desfred (im Englischen Offred, also der Magd von Fred). Die wird am Ende von einem Auto abgeholt. Ob sie in eines der Arbeitslager des totalitären, christlich-fundamentalistischen Gilead gebracht oder von der Befreiungsorganisation gerettet wird, bleibt offen.
Über drei Jahrzehnte mussten die Fans nun nach diesem Cliffhanger auf eine Fortsetzung warten. Derweil gab es eine Verfilmung von Volker Schlöndorff unter dem Titel „Die Geschichte der Dienerin“ (1990); 2017 dann sogar eine ganze Fernsehserie, „The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd“, mit mittlerweile sogar schon einer zweiten Staffel. Erst die vielfach preisgekrönte TV-Adaption befeuerte den langsam verblassten Ruhm des „Reports“ wieder. Schließlich befasste die Autorin sich selbst erneut mit der Geschichte. Vielleicht war sie mit den Drehbüchern nicht einverstanden? Auf alle Fälle klaffen die Inhalte von Fortsetzungsbuch und Serie auseinander. Den „Report der Magd“ schrieb Atwood unter dem Eindruck der neuen Seuche Aids und der iranischen Revolution, die wenige Jahre zuvor aus der Monarchie ein Mullah-Regime machte.
Die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ bietet ebenfalls jede Menge Parallelen zur Gegenwart, zur aktuellen Politik und gesellschaftlichen Doppelmoral. Auch wenn sie jetzt mehr mit Begriffen wie Trump, #MeToo oder dem IS verbunden sind – die laut dröhnende Mahnung von Atwoods düsterer Zukunftsvision ist unüberhörbar. Gleich zu Beginn bricht die Schriftstellerin mit sämtlichen Regeln des Weitererzählens. Denn anstatt Desfred erneut zu Wort kommen zu lassen, präsentiert sie drei verschiedene Stimmen. Zu ihnen zählen unter anderem die bereits bekannte und ungeliebte Tante Lydia, eine bösartige Ausbilderin in Gilead. Und Desfreds damals geraubte und längst zur jungen Frau herangewachsene Tochter.
Es dauert ein wenig, ehe man in Gilead wieder beziehungsweise überhaupt erstmals heimisch wird. Das perfide Konstrukt aus Bigotterie und Despotie muss schließlich erst einmal erinnert oder erklärt werden. Doch dann zieht Atwood, die sich noch nie um Begriffe wie E oder U scherte und munter von seicht zu geistreich und wieder zurück springt, sämtliche Register. Der Stil ist vertraut, klar formuliert und klug komponiert, mit viel Ironie, geistreichem Wortwitz und großer allegorischer Kraft. Ihre drei Heldinnen, die am Ende das Regime zu Fall bringen werden, bewegen sich inmitten eines Meeres von ziemlich unsympathischen Figuren. Die ohnehin kaum bedeutsamen Männer inmitten dieser menschenfeindlichen und intriganten Strukturen sind ausnahmslos emotionale Krüppel, Mistkerle oder gleich komplette Idioten. Da hätte man sich gelegentlich mehr Differenzierung und Erklärung gewünscht, warum die Typen sich eigentlich alle so begeistert hineinbegeben in dieses System. Denn nicht jeder darf ja die ständige Verfügbarkeit der Mägde genießen.
Doch da Atwood das Tempo – im Gegensatz zum eher gemäßigt dahinfließenden „Report“ – in den „Zeuginnen“ konsequent hoch hält, ergeht es einem wie bei der Lektüre eines spannenden Thrillers oder Spionageromans: Mag im Nachhinein auch manches wenig plausibel erscheinen – während des Lesens bemerkt man es kaum. Was man den „Zeuginnen“ allerdings deutlich anmerkt, ist das in nahezu jeder Szene spürbare Schielen nach einer Verfilmung.
Margaret Atwood:
„Die Zeuginnen“. Aus dem Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag, München, Berlin, 572 Seiten; 25 Euro.
Hörbuch, gelesen von Leslie Malton, Eva Meckbach, Inka Löwendorf, Vera Teltz und Julian Mehne (Osterwold Audio).