„Ach manchmal ist alles so schwer, gar nicht zu sagen.“ 1942 öffnet die beliebteste bayerische Künstlerin, nämlich Liesl Karlstadt, wieder einmal ihr Herz der Freundin Norma Lorenzer. Da ist die Schauspielerin schon seit Jahren zermürbt von Depression, schweren Krankheiten und einer sowohl erfüllenden als auch anstrengenden Arbeit auf der Bühne, im Rundfunk und beim Film.
In ihrem heute erscheinenden Buch „Liesl Karlstadt – Schwere Jahre 1935-1945“ beleuchten Sabine Rinberger, Chefin des Valentin-Karlstadt-Musäums, und Andreas Koll, Sammlungsexperte des Musäums, das Leben der Sängerin, Komikerin, Schauspielerin, Ersatzmutter, Psychologin, Bergsteigerin, Patientin, Skifahrerin, Muli-Treiberin, Reiselustigen, Freundin und selbstständigen Frau. Der reich bebilderte Band will keine romanhafte Biografie sein, und doch hat er den Anspruch, das Leben der Münchnerin Elisabeth Wellano, geboren am 12. Dezember 1892 und gestorben am 27. Juli 1960, im inneren Wesen zu dokumentieren – mit Konzentration auf die „schweren Jahre“. Dass das sinnvoll ist, wird beim Lesen klar: Liesl Karlstadts Leben war trotz ihrer Erfolge und den Sympathien, die ihr entgegenflogen, schwer. Schon allein, weil sie zu der Generation gehörte, die zwei Weltkriege überstehen musste.
In ihre seelische und körperliche Lage hineinversetzen konnten sich die Herausgeber und Autoren erst durch ein total überraschendes Geschenk. 2006 kam eine Brigitte Eriksson mit einer Mappe voller Briefe, Postkarten und Fotos ins Valentin-Karlstadt-Musäum im Isartor: 139 Archivalien, die die Mutter Erikssons und sie selbst aufbewahrt hatten. Jene enthalten die ungeschminkten, oft herzinnigen Aussagen der Karlstadt. Sie fasste liebevolles Vertrauen zu der gebürtigen US-Amerikanerin Norma Müller (1897 geboren, 1977 gestorben), die den deutschen Arzt Raimund Lorenzer geheiratet hatte und mit ihm in München wohnte, im „Kefernest“, einem Künstlertreffpunkt am Englischen Garten. Für ihr Töchterchen Brigitte war Liesl Karlstadt eine wunderbare Tante, mit der man schmusen und viel Gaudi machen konnte. Die bisher unveröffentlichten Briefe, die 2017 bei einer Ausstellung im Musäum gezeigt wurden, sind nun ausgewertet und werden im Buch ausführlich zitiert.
Rinberger und Koll berichten, dass die Wellanos arm waren – wie so viele; von den neun Kindern starben sechs. Nach dem Tod der Mutter 1909 musste Elisabeth große Verantwortung übernehmen; insbesondere für ihre Schwester Amalie, „Alli“, war sie Mutter-Ersatz. Beide blieben bis zu Liesls Tod eng verbunden. Auch Alli hat die große Schwester trotz schlimmster Stunden nie im Stich gelassen. Unter diesen Umständen emanzipierte sich die junge Kurzwarenverkäuferin im Kaufhaus Tietz automatisch. Trotzdem gleicht es einem Wunder, dass ihr der Sprung auf die Bühne glückte. Sie begegnete als offenbar begeisterte Zuschauerin der Alpensänger-Gesellschaft Schnackl Franz – und 1911 war sie dann schon die Soubrette bei Adalbert Meiers Gesellschaft.
Bunte Programme waren damals angesagt: Unterhaltung, möglichst rund um die Uhr – eigentlich wie heute, nur eben analog. Bei einem dieser Abende moserte ein gewisser Karl Valentin an Liesls Sangestalent herum und riet zum komischen Fach. Der „Blödsinnskönig“ hatte ihr Potenzial erkannt – und damit die Partnerin gefunden, ohne die er gar nicht zu dem solitären Genie des Komischen geworden wäre. Die beiden entwickelten Szenen; ab 1915 waren sie ihre eigene Volkssänger-Gesellschaft, so die Autoren. In den Zwanzigerjahren eroberten Karlstadt und Valentin die Münchner Brettln, Varietés, sogar die Kammerspiele – und schließlich Berlin. Dort überschlugen sich die Intellektuellen vor Begeisterung.
Dabei musste Liesl Karlstadt Valentins Neurosen (Lampenfieber, Reiseangst, Hypochondrie, Eifersucht) genauso abfangen wie seine plötzlichen Absagen. Sie musste obendrein bei den Proben die spontanen Einfälle und Texte aufschreiben, denn der Meister fixierte nichts – und lernte schon gar nichts auswendig. So wurde jede Vorstellung zum Seiltanz über dem Abgrund. „,Gell, wissen tu ich gar nichts, du sagst mir jedes Wort ein‘“, erzählte sie 1957, „und das hab ich auch 27 Jahre lang gemacht, ohne dass es jemand im Publikum gemerkt hat. Aber die allerbesten Einfälle, die witzigsten Sachen sind dann erst während der Aufführung entstanden.“
1928 machte sich schließlich bei der Karlstadt die Depression bemerkbar; heute würde man wahrscheinlich von Burn-out sprechen. Die Künstlerin spielte oft mehrere Vorstellungen am Tag auf unterschiedlichen Bühnen; Film (etwa „Die verkaufte Braut“, Regie: Max Ophüls) und Rundfunk kamen bisweilen hinzu. Außerdem war die große Liebe gescheitert; Valentin hatte sich nie zu Liesl bekannt – sie war „das Fräulein“ –, und er blieb bei Frau und Töchtern.
Karlstadts Überlebensstrategie – die Verlobung mit Josef Kolb half nicht – führte ins Gebirge, in Kliniken, auf Reisen, zur Freundin Norma Lorenzer und in die Schauspielkunst, die sie umsichtig trainierte. Die große Therese Giehse hatte das sehr wohl wahrgenommen. Als sie die Kammerspiele für Gastspiele verließ, empfahl sie die Karlstadt als Ersatz. Die übernahm 1930 im „Sturm im Wasserglas“ die Rolle der Frau Vogl, eines Münchner Gwachs’ wie aus dem Bilderbuch. Jede Entfernung von Valentin tat Liesl gut. Allerdings wusste sie, dass er der Ausnahme-Künstler und, pragmatisch gesehen, ein Auftritts-Garant war. Als er 1948 starb, war ihr Entsetzen groß, wie Koll und Rinberger schreiben, obwohl sie fast gar nicht mehr mit ihm auftrat.
Ab 1933 mischten sich die Nazis immer öfter per Zensur ins Kulturleben ein. Das traf auch Valentin und Karlstadt („Der Bittsteller“, „Die Erbschaft“). Überarbeitung, Depression, Angst nahmen bei der Komikerin 1934 extrem zu, 1935 versuchte sie, sich mit einem Sprung in die Isar das Leben zu nehmen. Für die kommenden Jahre verzeichnen die beiden Autoren eine erschütternde Anzahl von Klinikaufenthalten. Dabei litt die Karlstadt nicht nur psychisch, sondern auch physisch: Unterleibsoperation, eine Sepsis, die sie an den Rand des Grabes brachte, immer wieder Magenschmerzen, Mandel- und Magengeschwür-OPs, Lungenentzündungen. Dieser trostlose Befund wird kontrastiert von der künstlerischen Erfolgsgeschichte, die bei den Lesern viele herrliche Reminiszenzen auslösen wird. Wer einzig und allein den „Firmling“ gesehen hat, ist auf ewig Liesl Karlstadt verfallen.
Das alles wäre trotz hoher Informationsdichte eine bloße Aufzählung. Sabine Rinberger und Andreas Koll flechten indes Anekdoten ein, spannende Details über die Münchner Theaterhistorie und aus der politischen Geschichte, etwa dass Karlstadt bei dem Propagandafilm „Venus vor Gericht“ mitspielte, der sich gegen „entartete“ Kunst und Juden richtete. Zwischen heiter und brutal liegt die unglaubliche Gebirgsjäger-Episode: 1941 wieder ein Erholungsaufenthalt. Die Schauspielerin regeneriert in Ehrwald ihren Magen. Erneut liegt die Rettung in den Bergen. Auf der Ehrwalder Alm nahe bei ihrem Hotel Alpenglühn freundet sie sich mit den dort stationierten Gebirgsjägern an – vor allem aber mit deren Mulis. Dass ein Star gar nicht hochnäsig und zu jeder Gaudi aufgelegt ist, gefällt den Männern; obendrein kann’s Liesl alias „Gefreiter Gustav“ mit den störrischen Viechern. Eine für uns kaum vorstellbare humorvolle Harmonie stellt sich da oben auf dem Berg ein, obendrein akzeptiert von den militärischen Vorgesetzten.
Dieses Karlstadt-Wunder wird ab 1943 niedergebombt – sie muss endgültig zurück nach München, zu Alli. Nach dem Krieg geschieht das dritte Wunder. Wieder sind es die Liebenswürdigkeit der Künstlerin und ihr Können, die es möglich machen. Sie wird in den Fünfzigern zur beliebtesten Schauspielerin und zum „ersten weiblichen bayerischen Medienstar“: Einfach jeder hörte damals im Radio die „Brumml-G’schichten“. Der herzig-gschnappige Firmling war zur warmherzigen Mama Brumml geworden.
Sabine Rinberger, Andreas Koll:
„Liesl Karlstadt – Schwere Jahre 1935-1945“. Verlag Antje Kunstmann, München, 190 Seiten mit vielen Abbildungen; 20 Euro. Ausstellung im Valentin-Karlstadt-Musäum, Isartor, ab 25. Oktober.