Eigentlich sollte die Spielzeit am Bayerischen Staatsschauspiel bereits heute mit der Uraufführung von „Wir sind hier aufgewacht“ starten. Wie berichtet, sagte Regisseur Simon Stone jedoch kurzfristig ab, weil er einen Film für Netflix dreht. Nun beginnt morgen die Saison 2019/20 am Residenztheater – es ist zugleich der Auftakt für Andreas Beck, den neuen Intendanten. Wir trafen den 54-Jährigen, der vom Theater Basel kommt, in seinem Büro zum Gespräch.
Wie sauer sind Sie auf Simon Stone, dass er Ihnen mit seiner Absage der Eröffnungspremiere den Start verhagelt hat?
Natürlich war das mehr als Mist. Das Problem bei solchen Sachen ist ja: Wenn man einen Regisseur so gut kennt und über viele Jahre erfolgreich mit ihm arbeitet, weiß man auch, wie lange er sich schon mit diesem Filmprojekt beschäftigt. Der Freund in mir sagte zu Simon: „Ich verstehe dich.“ Und der Leiter dieser Institution sagte: „Du hast einen Vollknall.“ Das war die Schizophrenie der Situation.
Wer hat letztendlich die Oberhand behalten: der Freund oder der Intendant?
Der Diplomat in mir. (Lacht.)
Sie starten nun morgen mit „Die Verlorenen“, einem Auftragswerk Ihres Haus-Dramatikers Ewald Palmetshofer. Bereits bei Ihrer Vorstellung als neuer Intendant haben Sie betont, wie wichtig Ihnen Autoren und Texte sind. Was bedeutet Ihnen das Lesen?
Ohne Lektüre ist mein Leben nicht denkbar. (Pause.) Meine Verbindung mit dem Leben führt oft über die Bande der Kunst, respektive der Literatur. Der Lesende hat die Chance, so viele verschiedene Leben zu leben, die er in der Realität nicht leben kann, und in Dinge einzutauchen, die ihm sonst bestenfalls als Reportage zugetragen werden.
Liegt auf Ihrem Lektürestapel auch ein Buch, das nichts mit der Theaterarbeit zu tun hat?
Immer. Denn abends möchte ich nichts mit Doppelpunkten lesen. (Lacht.) Derzeit ist es Didier Eribon.
Ist bei Ihrem Verständnis von Theater der Autor wichtiger als der Regisseur?
Ich würde nicht in Hierarchien denken. Theater ist ein Zusammenspiel. Dramatik ist eine Kunstform, die sich erst dadurch erfüllt, dass ein anderer sie in die Hand nimmt.
Worauf freuen Sie sich in München am meisten?
Ich war gerne in Basel, dort haben wir quasi „stagione“ gespielt (im Stagionesystem werden im Unterschied zum Repertoirebetrieb Inszenierungen in längeren Serien gezeigt und dann abgesetzt; Anm. d. Red.). An München erfreut mich nun unter anderem, dass wir bei der Spielplangestaltung in die Breite gehen können, dass wir also Stoffe, die wir oft zusammen denken, auch parallel zeigen können. In dieser Spielzeit machen wir das unter anderem mit Büchner, von dem wir „Leonce und Lena“, „Woyzeck“ und „Dantons Tod“ spielen. Ich denke, dass man dadurch nochmals anders auf Stoffe und Stücke blicken kann.
Und was werden Sie an Basel vermissen?
Das Zusammenspiel der Sparten Schauspiel, Oper und Ballett. Das hat mir wirklich gut gefallen.
Sind Sie mit Serge Dorny, dem künftigen Intendanten der Bayerischen Staatsoper, im Gespräch?
Natürlich.
Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Zusammenarbeit von Staatsschauspiel und Staatsoper künftig enger wird?
Ich hoffe es! Denn die Nähe dieser beiden Häuser und die Tatsache, dass man gelegentlich dieselben Spielstätten benutzt, ist verführerisch. Man redet ja immer davon, dass die Gesellschaft diverser geworden ist – vielleicht sollte auch der Arbeitsort Nationaltheater diverser im Umgang untereinander sein.
Vor welchen Herausforderungen sehen Sie die Theater heutzutage?
Ich sehe heute keine anderen Herausforderungen als vor 25 oder 30 Jahren, als ich angefangen habe. Das Wichtigste für ein Theater ist immer, dass es aus seiner Zeit heraus argumentieren und entstehen muss. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass Moden nicht gleichzusetzen sind mit Entwicklung. Es gibt unterschiedliche Ansätze, das schon. Aber ich finde, dass heute nicht so einfach auszumachen ist, wohin sich das Theater entwickelt oder entwickeln sollte.
Worauf muss das Theater den Fokus setzen?
Auf Kommunikation und Vermittlung. Darum machen wir, die wir hier täglich arbeiten, uns zu wenige Gedanken. Für Einsteiger ist die Hemmschwelle, heute in ein Theater zu gehen, größer als man meint.
Woran liegt das?
Unter anderem daran, dass junge Leute durch ein G8 gepeitscht wurden und gar keine Gelegenheit mehr hatten, so etwas wie Herzensbildung zu erwerben. Das liegt aber auch an der sich immer weiter auffächernden Freizeitgesellschaft. Deswegen ist die Vermittlung der Kunst aus den Häusern heraus wichtig: Wir müssen das Theatervirus verbreiten!
Wie stellen Sie das an?
Lust auf Theater entsteht oft durch Beteiligung: dass man mitmacht, nicht nur zuschaut. Aus dem „Jungen Resi“ wurde das „Resi für alle“ – für alle Menschen, die sich schon immer dafür interessiert haben, was hinter diesen Mauern vorgeht. Das ist ein Aspekt. Dann werden wir Ein-, aber auch Ausführungen zu den Inszenierungen anbieten: Wir erklären, was zu sehen ist oder was gesehen wurde – so können wir auch klar machen, dass man einen Abend genießen kann ohne Vorwissen.
Ich würde gerne zu Ihrer These zurückkehren, Theater müsse „aus seiner Zeit heraus“ entstehen. Nehmen wir den rechten Terror von Halle. Wie kann, muss, sollte Theater darauf reagieren?
Als Teil der Gesellschaft und Institution muss Theater unbedingt darauf reagieren. Künstlerisch ist es schwieriger. Nehmen Sie die Malerei: Man kann nicht immer spontan ein Gemälde malen – eine Skizze ja, ein Gemälde nicht. Es ist natürlich möglich, aus der Ohnmacht oder aus der Empörung heraus Kunst zu formulieren – aber es ist nicht der optimale Weg, weil Kunst tiefer reflektieren sollte.
Wann ist Ihre erste Spielzeit ein Erfolg?
Ich denke nicht in Leistungskurven. Wir haben hier ein Ensemble in einem der größten deutschen Schauspielhäuser zu einem lustvollen und inspirierenden Arbeiten zusammenzufügen, das ist der eine Teil. Der andere ist, dass wir in München mit Erwartungen und einer Theaterlust konfrontiert sind, die es auf unterschiedliche Arten zu bedienen gilt. Das ist ein Prozess. Wie sagte Sepp Herberger so schön: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Das ist ein Marathonlauf, und ein Etappensieg ist eben nur eine Etappe.
Das Gespräch führte Michael Schleicher.