Was ist mit unseren Bürgern los, fragt seit Längerem die Theatertruppe um Intendant Andreas Beck, erst in Basel, nun in München. „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann ist so ein Fall – und eine weitere Übernahme, die am Freitag am Residenztheater bei uns ihre Premiere hatte (drei Stunden mit Pause).
Ob Simon Stone mit Tschechows „Drei Schwestern“, ob Palmetshofer mit Hauptmanns Dramenerstling von 1889, damals ein Megaskandal-Knaller: Die Theaterschwergewichte werden in die ästhetische Wohlfühlzone des 20./21. Jahrhunderts gezogen: gesittet, aber mit Anspruch auf Kritik, sanfte natürlich. Dagegen sind die alten Klassikerknacker mit ihrer Untergangs-Schonungslosigkeit und ihrem perfid-genauen Blick auf die Zeitgenossen nachgerade ungenierte Systemsprenger.
Palmetshofer schockiert das Publikum eben nicht mit Armen, die am Verrecken sind, mit alkoholkranken Reichen, die ihre Töchter missbrauchen und Menschen bis zum Gehtnichtmehr ausbeuten, auch nicht mit Menschheitsrettern, die aber ihre vielleicht erbbelastete Nächste doch lieber nicht retten wollen. Der Autor aus Österreich, der mit Vers-geschliffener Sprache überzeugt, zeigt uns vielmehr eine gut situierte Mittelstandsfamilie, die eine Firma für Karosseriebau im Speckgürtel einer Stadt betreibt. Man führt den altbekannten, durchaus unterhaltlichen Sippenkleinkrieg, den Palmetshofer nach dem Motto „Eugene O’Neill meets Ingmar Bergman“ gestaltet.
Thomas Hoffmann hat ins Unternehmen eingeheiratet und führt wie bei Hauptmann das Regiment. Ebenso erwarten er und seine Frau Martha ein Kind, das schließlich tot geboren wird. Im Gegensatz zu dem naturalistischen Stück ist jetzt die Ehefrau präsent und im Hochschwangeren-Hormonsturm eine starke Figur; bestes Spielfutter für die überzeugende Myriam Schröder. Dafür wird Helene (Pia Händler mit herber, ehrlicher Kraft) zurückgesetzt, die bei Hauptmann eine beeindruckende Emanzipation erleben darf. Papa Krause und Stiefmutter Krause sind keine Monster mehr, sondern Normalos in zerbröckelnder Ehegemeinschaft. Cathrin Störmer gibt eine freundliche Frau, die sich immer um diese Familie bemüht hat, ohne dass es ihr gedankt wird. Und Steffen Höld erringt seinem Säufer Sympathien.
Der kernige schlesische Rocky-Horror-Komödienstadl von Hauptmann interessiert Palmetshofer nicht. Das schmälert die theatrale Energie, zumal Regisseurin Nora Schlocker mit zu großer Selbstbescheidung der Textvorgabe folgt und zudem nicht genügend gekürzt hat. Da müsste mehr Zug, mehr Tempo rein. Sie setzt außerdem nicht entschlossen genug das politische Gespräch zwischen Hoffmann und seinem Gast Alfred Loth ins Zentrum ihrer Inszenierung. Der Disput hätte das Herzstück dieser „Vor Sonnenaufgang“-Version werden müssen, denn hier wird sie unmittelbar heutig. Der ehemalige Studienspezl Alfred, jetzt Journalist, will verstehen, warum Thomas für die Rechtspopulisten kandidiert und trommelt, will herausbekommen, warum unsere Gesellschaft auseinanderdriftet – will sogar die Hand zur Versöhnung reichen. Michael Wächter und Simon Zagermann, die vorher schon ein feines Spiel von Sympathie und Aggression entwickelt haben, decken in dem klug-zaghaften Dialog den Umfang unserer Hilflosigkeit zwischen „links“ und „rechts“ auf.
Doch da hätte noch mehr, noch Intensiveres kommen müssen. In der Aufführung wird hingegen unsere Aufmerksamkeit zerfleddert: von den Einlassungen des Doktors (hübsche, etwas eitle Studie von Thiemo Strutzenberger) und den finalen Gebär-Qualen. Am Schluss geht hinter den cremeweißen Räumen (Bühnenbild: Marie Roth) die Sonne auf – ungerührt von Tod, Dummheit und Unversöhnlichkeit. Freundlicher Applaus.
Nächste Vorstellungen
am 6., 11., 14. Dezember;
Karten: 089/2185-1940.