„Wolfsegg“ ist ein fiktives, enges Tal in den Bergen, in dem trotz der technischen Entwicklung die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Archaische Machtstrukturen prägen den Alltag und die Gemeinschaft, wer sich nicht anpasst, gehört nicht dazu. Die 15-jährige Agnes Waldner, ihre Eltern und ihre kleinen Geschwister sind solche Außenseiter, die dafür büßen müssen. Als der Vater ermordet wird und die Mutter daraufhin ihrer schweren Krankheit erliegt, flüchtet Agnes in die Berge, um Bruder und Schwester vor einem grausamen Schicksal zu bewahren. Dass dieser fesselnde Plot stark an einen Thriller erinnert, ist kein Zufall, gibt Peter Keglevic, Autor und Filmregisseur („Der Tanz mit dem Teufel“), zu. „In diesem Genre kann man kompliziertere Dinge erzählen. Es geht mir darum, den Menschen in seiner Vielfalt zu verstehen, zu ergründen, tief in seine Seele zu blicken.“
Was der Leser erst nach und nach erfährt: Agnes selbst wurde einst missbraucht, in dem Kinderheim, in das sie nun wieder geschickt werden soll. Keglevics gelungener Clou: Auch Agnes hat dieses Verbrechen so verdrängt, dass die Erinnerung nur langsam zurückkehrt, verschwommen und verzerrt wie die Negative, die sie als Beweis dafür findet. Das Verdrängen eines solchen Verbrechens ist kein Phänomen, das er sich ausgedacht hat, ist dem Autor wichtig zu betonen: „Ich habe mich viel mit Therapeuten und Psychologen über das Thema Missbrauch, das in der Literatur noch viel zu wenig behandelt wird, unterhalten. Missbrauch wird von Opfern oft so verdrängt, dass er in der Erinnerung nicht mehr wahrgenommen wird. Um überlebensfähig zu bleiben, darf das im Leben keine Rolle mehr spielen.“
Eine gründliche Recherche und die akribische Strukturierung sind Basis jeglicher Arbeit von Keglevic, der die Grundstory bereits im Kopf hat, bevor er auch nur eine Zeile des Romans schreibt. „Wissen ist etwas sehr Kostbares für mich, nichts Hinderliches.“ Erst durch einen strikten roten Faden habe er die Freiheit, seine Fantasie in unterschiedliche Richtungen gleiten zu lassen. „Deshalb liebe ich Disziplin und Organisation!“, verkündet er und muss kurz schmunzeln. Erst wenn er „ohne Gepäck reise“, habe er „die Hände frei.“ Natürlich entstünden dennoch manchmal Löcher, über die man im Buch und auch im Film „nicht drüber“ komme. „Aber durch die Vorbereitung stolpere ich dann nicht hinein oder stopfe sie krampfhaft, sodass die Geschichte holprig wird. Stattdessen gehe ich zwei, drei Schritte zurück und finde einen anderen Weg.“
Diese Wege führen den in Salzburg geborenen Österreicher beim Schreiben und Drehen oft in die Heimat zurück. Trotzdem wehrt er sich gegen den Begriff „Heimatroman“: „Wolfsegg kann überall sein, wo Menschen in ihrem Denken und ihrer Haltung immer enger werden, wo die Entwicklung des menschlichen Aufeinanderzugehens endet und stattdessen Gewalt und Brutalität herrschen. Das ist nicht nur in Österreich so.“ Auch Agnes ist vor dieser Brutalität nicht gefeit. Aber sie handelt nie aus Spaß an Gewalt, verteidigt Keglevic seine Protagonistin. „Sie steckt mitten in der Pubertät, denkt noch nicht an die Zukunft, sondern sie hat unmittelbar im Jetzt den Instinkt, ihre Geschwister schützen und Verantwortung übernehmen zu müssen. Das tut sie ohne Kompromisse.“ Moralisch sei das zwar nicht zu vertreten, psychologisch aber nachvollziehbar: „Sie will das Übel mit der Wurzel herausreißen.“ Außerdem seien Menschen nicht per se „gut“ oder „böse“. Und genau davon zu erzählen, sei für ihn der größte Reiz – beim Filmen wie Schreiben.
Kehrt Keglevic, der bereits 2017 mit seinem Roman „Ich war Hitlers Trauzeuge“ Erfolge feiern durfte, durch das Schreiben bewusst zu den eigenen Wurzeln zurück? „Früher war ich dafür zu ungeduldig“, gibt er zu und schmunzelt erneut. „Da war die Zeit noch nicht reif.“ Filmproduktionen hätten, auch aus Kostengründen, einen festen Rhythmus: sechs Wochen Vorbereitung, sechs Wochen Dreh, sechs Wochen Schnitt. „Das ist wie in einer Schraubenfabrik: Zehnermuttern, Zwölfermuttern…“ Einst war ihm das wichtig, heute brauche er das nicht mehr dreimal im Jahr, sagt der 69-Jährige. „Jetzt reicht mir jährlich ein Film. Und den Rest der Zeit verbringe ich mit dem Schreiben. Ja, Sie haben vielleicht Recht: Irgendwie schließt sich der Kreis.“
Dennoch lässt ihn der Film nicht los. Voraussichtlich im Frühjahr 2020 zeigt das ZDF seine nächste Produktion. Anna Unterberger spielt in „Das Tal der Mörder“ nach einem Drehbuch von Dominique Lorenz eine Jurastudentin auf der Suche nach dem Mörder ihres Vaters. Dafür lässt sie sich bei dem Hauptverdächtigen Anton Gasser, gespielt von Fritz Karl, als Haushaltshilfe einstellen. Familiendrama, Krimi, Liebe und die Berge als Kulisse – wer „Wolfsegg“ verschlingt, darf sich auf Keglevics neuen Film freuen.
Peter Keglevic:
„Wolfsegg“.
Penguin Verlag, München, 320 Seiten; 20 Euro.