Zu viel Freiheit, das tue ihm gar nicht gut. Das sagt Hans Abrahamsen über sich selbst, und wer in seine Partitur blickt, versteht ihn sofort. Kollegen wie Beethoven oder Mozart signalisieren mit Begriffen wie „Allegro“ oder „Largo“, wie schnell oder langsam ein Stück gespielt werden soll. Abrahamsen arbeitet mit der Stoppuhr: Bevor er die leeren Notenblätter füllt, legt er genau fest, wie lang eine Szene dauern darf. Eine „sehr klare Idee von der Leinwand eines Stücks“ nennt er dies. Und die müsse nun gefüllt und bemalt werden.
Ein Hyperkontrolleur? Ein Zeitfetischist? Ein Strukturenfanatiker? Die Begegnung mit dem 66-jährigen Dänen lässt nichts dergleichen vermuten. Ein freundlicher, bescheidener, ausnehmend liebenswürdiger Herr tritt einem da gegenüber – dem man in keiner Sekunde anmerkt, dass er vor einem der wichtigsten Momente seiner Karriere steht. Am 21. Dezember hat seine erste Oper „The Snow Queen“ an der Bayerischen Staatsoper Premiere. Die Uraufführung des 100-Minüters war Mitte Oktober in Kopenhagen, damals auf Dänisch. In München wird auf Englisch gesungen, so, wie es Abrahamsen eigentlich möchte.
Als Grundlage wählte er ein symbolistisches Kunstmärchen seines Landsmanns Hans Christian Andersen. Im Mittelpunkt stehen die Nachbarskinder Gerda und Kay. Letzterer wandelt sich, nachdem ihn die Splitter eines teuflischen Zauberspiegels trafen, zu einem missgelaunten Charakter. Kay verschwindet, und Gerdas lange Suche, ihre Begegnungen mit geheimnisvollen Gestalten inklusive der Schneekönigin erzählen viel über Reifeprozesse, übers Erwachsenwerden, über Unschuld und Schuld und über Identität.
„Es ist kein Kinderstück“, warnt Hans Abrahamsen – womit er sowohl Andersens Vorlage als auch seine eigene Oper meint. Aber, so möchte man ergänzen: Es ist auch kein Musiktheater, das auf Konfrontationskurs zum Hörer geht. „Es klingt alles sehr simpel, darunter ist aber alles sehr kompliziert“, meint der Komponist – womit das Prinzip seiner Arbeitsweise auf den Punkt gebracht wäre. Und auch wenn man es aufs erste Hören gar nicht glaubt: Für „The Snow Queen“ verwendet Abrahamsen ein Orchester von Wagner-Dimensionen. Im Stil der „Neuen Einfachheit“ bewege sich der Däne, so wird gemeinhin gesagt. Eine Zuordnung, die zwar hilft, seine so eigene Klanglichkeit aber nicht hinreichend umschreibt.
Auf den Gedanken, eine Oper zu komponieren, habe ihn einst Hans Werner Henze gebracht, der Gründer der Münchener Musiktheater-Biennale. Lange ist das her. Es gab immer wieder Anläufe zu größeren Vokalstücken, das bekannteste ist der dreiteilige Orchesterlieder-Zyklus, den Abrahamsen der Wundersopranistin Barbara Hannigan in die Kehle schrieb. Sie war letztlich daran schuld, dass Abrahamsen das Märchen „Snedronningen“ wählte, wie es im dänischen Original heißt. Und die kanadische Sängerin ist nun auch in München dabei. Nein, nicht in der Titelrolle, sondern als suchende Gerda.
Abrahamsens Queen ist nämlich ein Mann. „Das wäre doch zu naheliegend gewesen, diese Rolle für einen dramatischen Koloratursopran zu schreiben“, sagt der Komponist. Er habe daher weniger an Mozarts Königin der Nacht, sondern an den Sarastro aus der „Zauberflöte“ gedacht, an einen weisen, aristokratischen, auch zwielichtigen Herrn.
Wer wollte, konnte sich in den vergangenen Monaten in München mit der Musik des Dänen vertraut machen. Kleine Abrahamsen-Festspiele waren das, beim BR-Symphonieorchester war zum Beispiel gerade sein virtuoses, aber nie präpotentes Klavierkonzert „Left, alone“ für die linke Hand zu erleben.
Dirigent der Münchner Fassung von „The Snow Queen“ ist Cornelius Meister, Generalmusikdirektor der Stuttgarter Staatsoper. Als Chef des ORF-Radiosymphonieorchesters ist er mit der musikalischen Moderne bestens vertraut. „Eine Art Meditation“ hört Meister aus Abrahamsens Partitur heraus. Vieles erinnere ihn an das japanische Nō-Theater. „Einfach, weil es keine individualisierten Figuren gibt, sondern alle Teile von etwas Höherem sind.“ Die Kopenhagener Uraufführung hat sich Meister bewusst nicht gegönnt, damit er davon nicht beeinflusst wird. „Ich will ja auch erst das Buch lesen, bevor ich mir den Film dazu anschaue.“
Für die Inszenierung hat die Bayerische Staatsoper das bewährte Team Andreas Kriegenburg (Regie) und Harald B. Thor (Bühne) engagiert. Dass sich dieses Duo etwas wegbewegt von Abrahamsens Vorlage, lässt der Däne durchblicken. Doch wenn er dies mit feinem Lächeln berichtet, dann versteht man auch: Es stört ihn nicht, im Gegenteil. Und ob es bei „The Snow Queen“ bleibt? Wann er sich wohl an die Komposition der nächsten Oper macht? „Ich mag die magische Welt des Theaters. Es wächst etwas in mir.“
Premiere
am 21. Dezember;
Telefon 089/2185-1920.