Am stärksten und am vielsagendsten sind die Pausen. Ein unsicherer Blick neben die Kamera, ein Lächeln, vielleicht die Frage an sich selbst „Was kann ich noch erzählen?“, vielleicht die Feststellung „Eine Stunde ist ganz schön lang!“, ein introvertiertes In-die-Ferne-Schauen, niedergeschlagene Augen, während die Zigarette weiter qualmt…
Von 1996 an fast 20 Jahre lang ließen die Künstler Kurt Benning (1945-2017) und Hermann Kleinknecht (geboren 1943) ausgewählte Münchnerinnen und Münchner eine Stunde lang frei vor der Kamera sprechen. Da war die Schriftstellerin, die aus ihrem Werk vorlas, oder die Grafikerin, die sich an Geschichten über ihren Großvater erinnerte. Da war der Geräuschemacher, der verkündete, sein Privatleben gehöre nicht hierher. Oder der Buchhändler, der feststellte, dass mit dem Lesen auch die Individualität verschwinde. Ob Hausmeister oder Ex-Fotomodell, ob Psychotherapeut oder Ministerialrat a. D. – jeder nahm die Einladung zur Selbstdarstellung anders an.
Die „Gesichter der Stadt“ in unterschiedlichen künstlerischen Positionen zusammenzuführen: Das ist das Ziel der neuen Schau im Münchner Stadtmuseum. Doch der Besucher braucht Ausdauer, um aus knapp 50 intensiven „Videoporträts“ ein Münchner Stadtporträt zu lesen. Nicht nur weil er, hat er die Anfangstafel verpasst, raten muss, wer der Porträtierte und aus welchem Jahr die Aufnahme ist.
Belohnt wird er mit schönen, originellen, auch berührenden Momenten: Etwa wenn Martin Sperr rauchend, Bier trinkend, im rosa Strickpulli vom „Welterfolg aus dem Stand“ mit seinem ersten Stück „Jagdszenen aus Niederbayern“ erzählt. Oder wenn Sigi Zimmerschied die Kabarettbühne als seine eigentliche Heimat beschreibt, befreiend und entspannend.
Fünf überwiegend aktuelle malerische und fotografische Projekte, die das Porträt ebenfalls aus seinem traditionell eher elitären Rahmen befreien, flankieren die Videos. Die „Bilder für alle“ entstehen etwa aus den gezeichneten „Blind Dates“ der Münchnerin Jadranka Kosorcic oder den „Stundenporträts“ in Öl von Gabriele Drexler. Dass es auch ohne Handarbeit geht, beweist Timo Dufners KI-Arbeit „Die Maschine erinnert sich“. Eine Kamera „fotografiert“ die Ausstellungsbesucher; aus den gesammelten Gesichtsproportionen und Farbpixeln errechnen sich durchschnittliche weibliche und männliche Porträts.
Sehen sich Hund und Herrchen, Hund und Frauchen wirklich ähnlich, fragte 1989 die Fotografin Kerstin Schuhbaum und bat, glücklicherweise, mitten in der Hundefotografie-Ausstellung des Stadtmuseums die stolzen vier- und zweibeinigen Besucher spontan vor ihre Linse.
Auch die aktuelle Schau wächst mit ihren Besuchern: 2018 parkten Barbara Donaubauer und Ulrike Frömel ein mobiles Porträtstudio auf dem Wittelsbacherplatz – es entstanden rund 100 Bilder von Passanten. Auffallend glücklich und offen begegnen deren Blicke den Fotografinnen; frei und positiv wirken auch die Kommentare über ihre Heimatstadt München als Lebens- und Begegnungsraum. Am 28. Dezember (15 bis 17 Uhr) sowie am 12. Februar (18 bis 20 Uhr) wird dieses Projekt „Ein Bild für alle“ im Stadtmuseum fortgesetzt. Gabriele Drexler wird am 25. Januar (13 bis 17 Uhr) drei ihrer „Stundenporträts“ im Museumsraum anfertigen.
Bis 23. Februar 2020,
Di.-So. 10-18 Uhr; weitere Informationen unter www.muenchner- stadtmuseum.de.