Am Ende dieses wild-wüsten Theaterritts schwebt Argan. Für diesen kostbaren Moment macht der Superstar, den sie hier alle nur „Argi“ nennen, die Mühen des Alltags, den Stress mit seiner „Crew“, vor allem aber die Leiden seines Körpers vergessen – und gleitet sacht aus dem Schnürboden des Residenztheaters herab zu einem Auftritt, der sein letzter sein soll. David Bowies Major Tom trifft dessen Lazarus.
Auf bizarre Art ist die Überschreibung „Der eingebildete Kranke oder Das Klistier der reinen Vernunft“ in jenem Augenblick nah dran an der Originalkomödie und ihrer Uraufführung im Februar 1673. Damals übernahm der französische Dramatiker Molière (1622-1673) selbst die Titelrolle in der Inszenierung seines Stücks – und starb wenige Stunden nach der vierten Vorstellung. Zuvor hatte er auf offener Bühne einen Blutsturz erlitten.
Für München hat nun PeterLicht, Musiker („Wenn wir anders sind“, 2018) und Autor aus Köln, einen neuen Text nach Molières Drama geschrieben. Am Freitag war die von Claudia Bauer eingerichtete Uraufführung des zweieinviertel Stunden langen Abends (keine Pause).
Im Residenztheater ist Argan nicht nur ein eingebildeter Kranker, ein Held der Hypochondrie. Er ist ein echter Star, um den viele kreisen – inklusive er selbst: „Mir persönlich ist es schon viel lieber, wenn es nur um mich geht. Denn es geht ja nur um mich.“
Andreas Auerbachs Bühne verstärkt dieses Motiv. Er hat einen hohen Zylinder mit drei Etagen gebaut, der sich fast permanent dreht. Dann müssen sich die Schauspieler mitunter sputen, um Schritt halten zu können. Die eine Hälfte dieses Turms gibt den Blick auf Argans Backstage-Bereich frei – mit Schminktisch, Garderobe, Fitnessgeräten, Teeküche, Nasszelle. Die andere ist die Bühne (inklusive Showtreppe und Trampolin für den Überflieger), die für den Künstler bereitet ist. Die Live-Kamera unterstreicht das Motiv der permanenten Beobachtung, des ständigen Selbstbespiegelns.
Nervosität vor dem Auftritt und Lampenfieber sind noch die geringsten Probleme, die Argan quälen. Genussvoll und sprachverspielt zelebriert PeterLicht dessen Hypochondrie – dabei fließt auch der Text kreisförmig: Wieder und wieder umrunden die Figuren in ihrem Sprechen den Gesundheitszustand ihres Chefs und dessen (eingebildete) Leiden. Virtuos jongliert der Autor mit Doppeldeutigkeiten („Du hast doch nichts. Du hast doch alles.“) und Nullsätzen („Jetzt mal ganz basic gesprochen“), mit Straßen-Sprech („Ich werde sterben. Wie ungeil ist das denn?“) und Eso-Floskeln („Ich brauch jetzt mal eine andere Energie.“). So pendelt diese Neudichtung zwischen gehobenem Nonsens und plattem Blödsinn und zeigt, wie unendlich nervend es sein kann, wenn allein die eigene Befindlichkeit im Fokus des Sprechens, Denkens, Seins steht.
Claudia Bauer hat zum dritten Mal die Uraufführung einer Molière-Neudichtung von PeterLicht eingerichtet. Die Regisseurin hat zwar einen ordentlich schrägen Zugriff gefunden, anders wäre dem Stoff auch kaum beizukommen. Doch schreitet ihre Inszenierung die Lamento-Dauerschleife mit (zu) großer Beharrlichkeit ab und geht jede neue Runde des „Mir geht es grad nicht so gut“-Refrains mit. Ecce homo – und: Da capo. Dabei wären manchmal eine Straffung des Textes und die Erhöhung des Tempos eine noch bessere Medizin für diesen Abend gewesen.
Dennoch ist dieser „Eingebildete Kranke“ ein großer Theaterspaß, den die Musiker Henning Nierstenhöfer und Cornelius Borgolte mit lässigem Jazz begleiten. Das Ensemble, das Vanessa Rust in wunderbar schrille Kostüme gesteckt hat, stürzt sich mit enormer Lust in diesen Kreislauf der Krankheiten. In dessen Zentrum steht – natürlich – Florian von Manteuffel, dessen Argan unglaublich nerven kann. Der aber zugleich herzerweichend hilflos und brüllend komisch ist. Doch nicht nur er – sie alle hier spielen bis der Arzt kommt. Heftiger Applaus.
Nächste Vorstellungen
heute, am 31. Dezember sowie am 4. und 18. Januar; Telefon 089/21 85 19 40.