Sie hätte sich damals auch für Goethes „Faust“ entscheiden können. Den kannte Julia Hölscher auswendig. Doch stattdessen? Wählte Hölscher bei ihrer Deutsch-Abiturprüfung einen Text von Joseph Roth. „Weil ich es spannender fand, mich mit etwas zu befassen, das ich noch nicht so gut kenne. Obwohl ich beim ,Faust‘ eine viel bessere Note hätte bekommen können. Ich Idiot“, sagt die heute 40-Jährige und muss selber lachen. Weil sie natürlich weiß, dass das ein guter Wesenszug ist. Dieser Wille, über sich selbst hinauszuwachsen und nicht dieselben ausgetretenen Pfade rauf- und runterzutrampeln.
Mit dem Beginn der ersten Spielzeit von Intendant Andreas Beck am Residenztheater startete auch Julia Hölschers Zeit als Hausregisseurin. Man kennt sich aus Basel, wo sie in derselben Funktion Stücke wie Kleists „Amphitryon“ inszenierte – mit dieser Übernahme feierte sie Ende November 2019 ihren Einstand in München. „Das war toll: Ich habe gemerkt, wow, die Zuschauer hier gucken schon sehr genau hin. Wie sie gelacht haben, wie sie geschmunzelt haben, wie sie geatmet haben, da spürte man, dass sie mitleben und nicht nur zugucken“, lobt sie das bayerische Publikum.
Überhaupt, München. Die gebürtige Stuttgarterin kennt die Stadt an der Isar gut. „Für uns war das damals in den Neunzigern die Großstadt. Wir sind statt nach Berlin nach München gefahren. Und weil die Menschen sich heute wieder kleiden wie in den Neunzigern, fühlt sich das alles sehr ähnlich an.“ Keine Weiterentwicklung also? Kräftiges Kopfschütteln lässt ihre Haare wirbeln. „Doch! München hat sich sehr verändert, finde ich. Es ist moderner geworden. Man spürt diesen wirtschaftlichen Zuwachs, es gibt viel mehr Hochhäuser, viel mehr Leuchtreklame. Man merkt, insgesamt ist die Stadt schneller geworden. Ohne aber dieses Einladende, dieses Gemütliche zu verlieren. Dieses Nächtelang-an-der-Isar-Sitzen gibt es noch immer genauso – das ist wunderschön.“
Als junges Mädel wollte sie zum Film, war deshalb auch später häufig in der Filmstadt München. Entschied sich dann aber doch fürs Theater – „weil ich so ungeduldig bin“. Die Bühne biete den schnelleren kreativen „Output“, wie man das heute nennt. Kein langes Planen und Geld-Heranschaffen. „Ich bin dankbar, im Theater zu arbeiten, wo man einen gewissen zeitlichen Rahmen hat, in dem man die Projekte bewältigt.“
Nach Arbeiten an großen Bühnen wie dem Staatsschauspiel Dresden, dem Schauspiel Hannover oder Frankfurt nun also München. Mit großer Freude. „Dieses Haus ist mitten am Platz. Und es liegt ein großes Brennglas darauf. Dann ist die Bühne wunderschön, grad die Resi-Bühne ist gigantisch, und man hat diese Nähe zum Publikum, obwohl der Raum so groß ist.“ Voller Tatendrang freut sich die Frau, die die Herausforderung liebt, hier in München „drei Schlachtschiffe bespielen zu dürfen – alle drei Räume, Residenztheater, Marstall und Cuvilliéstheater, haben sehr große Wirkung auf mich“.
Als Hausregisseurin kommt neben den Inszenierungen eine weitere wichtige Aufgabe hinzu: die vielen Schauspieler, die Neuintendant Beck aus Basel mitgebracht hat, mit den Münchnern zusammenzubringen. „Ich sehe mich nicht nur als Produktionsmacherin, sondern auch als jemanden, der versucht, alles zu überblicken. Man muss lernen, eine gemeinsame Sprache zu finden.“ Dass sie, die Sprachbegeisterte („Das Schöne beim Theater ist, dass man so wühlen kann in der Sprache!“), auch einen Sinn für Dialekte hat, kann sie morgen beweisen. Dann feiert sie mit Marieluise Fleißers „Der starke Stamm“ Premiere. Ein Wunschstück von ihr, das sie vor Jahren mal in Braunschweig auf die Bühne brachte. „Doch damals hatte ich das Gefühl, es war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit für das Stück. Es hing mir danach immer nach. Ich wollte es an einem Ort machen wie hier, wo der Gestus der Sprache den Leuten bekannt und nah ist. Das war in Braunschweig wie ein Fremdkörper.“ Doch Wunschstück heißt auch: „Die Latte hängt hoch!“, sagt sie und grinst in einer Mischung aus Vorfreude und Aufregung.
Sie spielen das Volksstück in der hochdeutschen Fassung, von bairischem Einschlag durchzogen. „Es geht vor allem darum: Wie reden die Menschen miteinander? Reden die überhaupt miteinander oder gegeneinander? Die Leute sind sehr böse zueinander. Sie scheinen ständig darauf zu lauern, dem anderen eins reinwürgen zu können. Wenn wir das hinbekommen, dass das richtig böse rüberkommt, kann das sehr lustig werden“, hofft Hölscher. Neulich bei den Proben hätten sich die Feuerwehrmänner, die aus Brandschutzgründen immer anwesend sein müssen, im dritten Akt „teilweise weggeworfen vor Lachen“, erzählt sie. Feuerprobe bestanden. Im wahrsten Sinne.
Premiere
von „Der starke Stamm“ ist morgen, 19.30 Uhr; Telefon 089/21 85 19 40.