Mit leuchtender Klarheit

von Redaktion

Von wegen „Wirrwarr“: Heute erscheint Hans Magnus Enzensbergers neuer Gedichtband

VON ALEXANDER ALTMANN

Anfangs erschrickt man fast ein wenig. Denn so elegisch, ja melancholisch wie in seinem neuen Gedichtband „Wirrwarr“ hat Hans Magnus Enzensbergers Lyrik noch nie geklungen. Nicht, dass die heitere Gelassenheit verschwunden wäre, die für ihn so typisch ist, aber sie wirkt diesmal deutlicher auf Moll gestimmt: „Das meiste stelle ich gern anheim./ Dort steht es dahin./ Auf einem anderen Blatt.“ Allerdings kann man es einem neunzigjährigen, noch dazu weltberühmten Schriftsteller wohl kaum verdenken, wenn er im hohen Alter allmählich auch einmal die Hinfälligkeit alles Irdischen und die Endlichkeit unseres Daseins in den Blick nimmt.

So handelt gleich das erste Gedicht von dem Paradox, dass wir uns lebenslang mit Körperpflege abmühen, auch wenn es letztlich vergebens ist: „Gebürstet hat man, gegurgelt,/ gekremt, gewaschen, gefönt,/ (…) Obwohl man ganz genau wußte,/ da war nie ein Triumph in Sicht.“ Und in einem anderen Text scheint es fast, als verschmölze dieses Vergeblichkeitsgefühl mit einem Hauch von Müdigkeit zu einer weiseren Spielart von Resignation: „Wozu immer Absichten hegen,/ allerhand neue Fehler planen,/ Hervorbringungen, Nachwüchse?/ Hättest du nicht viel eher Lust,/ vollkommen geruch-, bedürfnis- / und sorglos einzugehen// in das gleichgütige/ Rauschen der Ewigkeit?“

Wer jetzt aber glaubt, der einstmals zornige junge Mann Enzensberger sei zahm und zahnlos geworden, der irrt. Auch im neuen Buch gibt es bissige zeitkritische Randbemerkungen, etwa zum Phänomen Talkshow: „Ich greife zur Fernbedienung/ und schalte euch ab.“ Das Gedicht „Investitionen“ wiederum liest sich wie ein Kommentar auf die Negativzinspolitik der Zentralbanken, wenn es da heißt: „Das viele Geld muß weg./ Angelegt muß es werden (…)/ Nicht nur die Reichen sind gezwungen,/ auch die Armen müssen es loswerden./ Was bleibt ihnen anderes übrig,/ als es zu verprassen, mit Hundefutter,/ Telephonen und T-Shirts“. Und wie schon in seinen Anfängen vor über 60 Jahren nimmt Enzensberger die (mittlerweile digitale) Sedierung der Massen aufs Korn – ausnahmsweise sogar in Reimen: „Vernetzt zu sein, verkabelt und verblödet –/ das alles ist kein Existenzbeweis.// (…) Den langen Tag wird dir die Rente würzen,/ und bald wird eine unsichtbare Hand sie kürzen.“

Aber auch ganz explizit wirft der Dichter einen augenzwinkernden Blick zurück auf sein eigenes Werk: Das Gedicht „Die Dreiunddreißigjährige, 2015“ wiederholt unter veränderten Zeitumständen einen Text von 1980. Damals war die Titelfigur eine orientierungslose Spät-Achtundsechzigerin in Batik-Kleidern, heute ist es eine Vertreterin der Generation Praktikum: „Die Eltern sind dann nach Terremolinos gezogen./ BWL in Dortmund war nichts für sie./ Am liebsten hätte sie ausgesehen wie die Flora/ auf dem Botticelli-Poster in der Küche.“

Apropos Botticelli: Keinesfalls unerwähnt bleiben dürfen die surrealen, fotorealistischen Gemälde von Jan Peter Tripp, die dieses Buch nicht illustrieren, sondern in ihrer Rätselhaftigkeit vielmehr einen reizvollen Kontrast zur leuchtenden Klarheit der Gedichte bilden.

Hans Magnus Enzensberger:

„Wirrwarr“. Gedichte. Mit Bildern von Jan Peter Tripp. Suhrkamp Verlag, Berlin, 140 Seiten; 24 Euro.

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