Die Zeit ist da

von Redaktion

Plácido Domingo bietet nun Vertragsauflösungen an – dabei gäbe es eine einfache Lösung

VON MARKUS THIEL

Anruf aus der Chefetage einer Kulturinstitution. Ob man irgendetwas über ihn und mögliche #MeToo-Verfehlungen wisse? Man wäre für Informationen sehr dankbar. Weil: Einfach auflösen könne man seinen Vertrag nicht – schließlich habe er sich dieser Institution gegenüber nichts zu schulden kommen lassen. Den Fall Daniele Gatti betraf dieses Telefonat damals, der Name der Institution tut hier nichts zu Sache.

Bekanntlich hatte sich das Concertgebouw Orchestra Amsterdam im Sommer 2018 vom damaligen Chefdirigenten in Windeseile getrennt. Was Gatti dort verbrochen haben soll oder andernorts, kam nie ans Licht. Mittlerweile ist der Italiener an der Spitze der Römischen Oper und durfte bei einigen Orchestern gastieren. Ihn ausladen, davor schreckten diese Ensembles zurück. Weil dies gleichbedeutend gewesen wäre mit einer Art Berufsverbot inklusive möglichem Rufmord. Und weil man die Vertragsstrafen scheute.

Ganz ähnlich ist dieser Fall gelagert wie der Plácido Domingos. Auch er durfte sich nach Bekanntwerden der #MeToo-Vorwürfe bejubeln lassen – dies allerdings außerhalb der USA, wo man schnell die Notbremse zog und ihm entweder kündigte oder so unter Druck setzte, dass der Star von sich aus absagte. Doch in Europa wollte man weiter auf das Zugpferd setzen. Am eklatantesten fiel die Zustimmung im vergangenen Sommer bei den Salzburger Festspielen aus: Noch bevor Domingo einen Ton sang, erhob sich das Publikum zu Standing Ovations.

Seit gestern gibt es einen entscheidenden Unterschied zu Gatti. Domingo bietet von sich aus Vertragsauflösungen an. Nachdem er sich Anfang der Woche bei den Frauen, die ihm Übergriffe vorwerfen, entschuldigte (wir berichteten), baut er nun den Veranstaltern eine Brücke: Er werde sich von den Theatern und Unternehmen zurückziehen, „die Schwierigkeiten haben, diese Verpflichtungen einzuhalten“, heißt es in einer Mitteilung auf seiner Facebook-Seite. „Andererseits werde ich alle meine anderen Verpflichtungen erfüllen, wo die Umstände es zulassen.“ Im Klartext: Wer will, kann sich von Domingo trennen, und dies ohne finanzielle Folgen. Offenbar spürt der Ex-Tenorissimo, der zum Bariton mutierte, dass es eng wird. Nachdem in Madrid das staatseigene Teatro della Zarzuela seine Verträge aufgelöst hat, sagte Domingo Vorstellungen von Verdis „La traviata“ am dortigen Teatro Real ab – und kam offenbar einer Kündigung zuvor.

Auch nach dem gestrigen Facebook-Angebot Domingos hält die Bayerische Staatsoper an einem Engagement fest. Der offiziell 79-Jährige ist hier für Verdis „Nabucco“ im Juli gebucht. Für das Haus habe sich nichts an der Situation geändert, so eine Mitteilung auf Anfrage. All dies zeigt, dass sich die Kulturinstitutionen in einer Zwickmühle befinden. Mit Domingo möchten man einen der letzten kassenträchtigen Superstars aus der Liga Netrebko, Kaufmann und Bartoli aufbieten können. Außerdem sind Domingos Verdienste um die Opernwelt inklusive Nachwuchsförderung unbestritten – nicht zuletzt er selbst hat darauf (und damit nicht ganz uneigennützig) in seiner gestrigen Mitteilung verwiesen.

Strafrechtlich kann gegen Domingo nicht mehr vorgegangen werden, die Übergriffe liegen zu lange zurück. Aus moralischer Sicht rücken aber die zum Gutteil öffentlich finanzierten Häuser wie München, Hamburg oder Salzburg immer mehr ins Zwielicht: Kann man sich dort, wo ans Verhalten aller Beschäftigten strenge Maßstäbe angelegt werden, einen Künstler wie Domingo noch leisten?

Dabei gäbe es für all dies eine einfache Lösung: Domingo müsste noch einen Schritt weitergehen, einen großen, entscheidenden, der ihm zugegebenermaßen schwerfallen dürfte. Der Jahrhundertsänger hat längst einen würdigen Abschiedszeitpunkt verpasst, und zwar aus vokalen Gründen. Wer ihn in den vergangenen Monaten erlebte, der hörte auch die Mühen, die ihm diese Auftritte bereiteten – und die häufigen Fehler. Um sich und dem Publikum all dies und womöglich noch mehr zu ersparen, sollte Domingo seine Karriere spätestens jetzt beenden.

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