Der Gasteig hat sicherlich schon manchen Verriss erlebt – aber das! Direkt neben dem S-Bahn-Aufgang steht ein hoher Sockel ohne Figur. Die Inschrift informiert uns allerdings, dass an Sophia Süßmilch erinnert werden soll – wohl nicht im Guten. Die Inschrift strotzt vor Ausdrücken, die die Künstlerin herunterputzen. Im S-Bahnhof-Zwischengeschoss sind diesem „Denkmal der Beleidigung“ diverse ausführliche Verrisse vorausgegangen.
Das 15. RischArt-Projekt interessiere sich heuer für die Funktion der Schrift in der Bildenden Kunst, sagt Kuratorin Katharina Keller bei der Pressevorbesichtigung. Ihr sei aufgefallen, dass Zeichen vermehrt in Artefakten auftauchen. Das passt nicht nur zur Stadtbibliothek vorzüglich. Gasteig-Geschäftsführer Max Wagner ist ohnehin glücklich, einmal Bildende Kunst „in den öffentlichen Raum in München“ geholt zu haben. Ihn beunruhigt in Zeiten von Covid-19, „dass Kultur und Bildung nicht mehr für unsere Gesellschaft da sein sollen“. Deswegen ist er froh um die Exposition „Jaja – Neinnein – Vielleicht“, die sich vor und in dem Gasteiggebäude verstreut hat. „Ganz München wird in die Ausstellung gehen; Kultur gehört eben zur Daseinsvorsorge!“ Gerhard Müller-Rischart, der RischArt 1983 zum Hundertjährigen seines Backhauses gründete, freut sich, „dass wir was Gutes produzieren – auch Kunst“. Und sein Sohn Magnus ist begeistert von der Zusammenarbeit mit dem Gasteig-Team.
Kuratorin Keller zeigt sich von der gegenwärtigen Lage, auf die der Titel „Jaja – Neinnein – Vielleicht“ (eigentlich inspiriert von Joseph Beuys’ Klanggedicht „Ja, ja, ja, ja, nee, nee, nee“) allzu sehr passe, erschreckt. Kaum führt sie durch die Schau, ist alle Sorge verflogen. Sie strahlt im Angesicht der Kunstwerke. Und wer sich von ihnen überraschen lässt – manche muss man erst aufspüren –, hat sofort Corona, Angst um die (Groß-)Eltern und Klopapierkäufe vergessen. So schlimm wie Süßmilch gebeutelt wird, kann es für einen selbst nicht kommen. Obwohl? Dana Lürkens Eisplastik „Change“ im Hof ist durchaus als Memento mori zu verstehen. Ähnlich wie Thomas Rentmeisters „… von wegen!“. Das steht in geschwungener Leuchtröhrchen-Schrift trotzig in einem vergammelten Wohnwagen, aus dem Schotter quillt. Dagegen sind Maximilian Erbachers Begriffs-Fahnen draußen ein teils deftiger, teils optimistischer Aufruf, sich auf Humanismus zu besinnen.
Im Gasteig-Inneren kämpfen die Arbeiten mehr oder weniger erfolgreich gegen die chaotische Architektur und Ausstattung an. Albert Coers akzeptiert sie und schleicht sich mit „Gasteig Encounters“ einfach überall hin. Die kleinen Plakate sind rätselhaft. Erst nach und nach wird klar, dass das Abbildungen von gebärdensprachlichen Zeichen sind. Bedeutung hinter dem Offensichtlichen sucht Alicia Framis mit ihren durchsichtigen Tüchern, auf denen in verschiedenen Sprachen „Ist mein Körper öffentlich?“ fragt. Und sie meint den weiblichen Leib, der ständig von Männern durch deren Normsetzung okkupiert wird. Die Performance der Spanierin mit zwölf Frauen muss entfallen.
Sprache und Buchstaben führen Bea Meyer und Clara Oppel ins Geheimnisvolle zurück. Man weiß, da gibt es etwas, das einst zu entschlüsseln war; nun ist es unmöglich. Meyer verwandelt in „Rauschen #3“ auf ihrem Teppich aus verfilzter Seide Zeilen in eine abstrakte „Zeichnung“. Und Oppel entwirft mit „textere“ aus kleinen Schalltrichtern ein poetisches Wandrelief. Wenn es tönt, verdichtet es Sprachfragmente zu einem abstrakten Klangwerk. Rätsel mag Thomas Thiede ebenfalls. Mit „Neues vom ungläubigen Thomas“ schickt er eine Löwin, einen Antilopenkopf, einen Kormoran und ein Mädchengesicht in den Rolltreppenschacht der Haupthalle. Ausgestopfte Tiere und ein Kindergesicht, das gemalt scheint – bis man den Lidschlag bemerkt. „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein“ (Ma. 5,37); Thiede hingegen tendiert zum „Vielleicht“.
Wer mehr wissen möchte über seine Überlegungen zum heiligen Thomas und den verfremdeten Symbolen für die vier Evangelisten (Markus/Löwe, Lukas/Stier, Johannes/Adler, Matthäus/Engel oder Mensch), kann ihm einen Brief schreiben. Thomas Stehle hat dafür ein Briefkasten-Skulptur-Designobjekt namens „Babel“ gebaut. Es gibt Infos zu den Künstlern – und nimmt Nachrichten an sie auf. Eine wichtige Nachricht – nicht für den Kasten, sondern für alle – formuliert Gasteig-Chef Wagner: „Wenn wir geschlossen werden sollten, bleiben alle Kunstwerke hier. Und wir feiern ein Fest bei der Wiedereröffnung.“
Bis 5. April,
täglich 10-20 Uhr; Eintritt frei; Informationen, ob die Performances stattfinden, unter www.rischart.de/art.