Sieben Patienten waren es Mitte Dezember. Sie wiesen Symptome auf, die an das „Schwere Akute Atemwegssyndrom“ Sars im Jahr 2002 erinnerten. Der Arzt, der diese neuartige Krankheit an Beschäftigten auf dem Fischmarkt in Wuhan entdeckte, musste seine Beobachtung später offiziell zurücknehmen. Aber die unbekannte Lungenkrankheit ließ sich so nicht eindämmen. Verschweigen schon gar nicht. Zum Jahreswechsel war das SARS-CoV-2 bereits weltberühmt. Mittlerweile ist eine Pandemie des Atemwegsleidens Covid-19 Tatsache. Und jetzt ist auch die Angst da. Kriecht hinein in die Köpfe und lässt sich nicht mehr abschütteln. Das öffentliche Leben kommt mehr und mehr zum Erliegen. Nur in den Supermärkten sind noch Menschen unterwegs und kaufen die Regale leer.
Das erinnert alles erstaunlich genau an Szenen, die Albert Camus vor über 70 Jahren in seinem Roman „Die Pest“ beschrieb. Von der anfänglichen Idee des Verschweigens und Herunterspielens über die Ausweitungen der Kampf- und Bekämpfungszone bis zur flächendeckenden Panik. Auch die Parabel des französisch-algerischen Schriftstellers und Philosophen über die Absurdität menschlicher Existenz beginnt vergleichbar harmlos, ganz ohne apokalyptische Weltuntergangsstimmung. Erst sterben die Ratten, dann die Menschen.
Eine einzelne tote Ratte liegt zu Beginn des Romans im Flur eines Hochhauses, und der Hausmeister kann sich nicht erklären, wie das Vieh dorthin kam. Immer mehr Ratten sieht man auf den Straßen. Dann werden die ersten Menschen krank. Und sterben. Unruhe macht sich breit, und bald befindet sich ganz Oran im Ausnahmezustand. Die Pestkranken werden in bestimmte Viertel verbannt. Die Straßen abgeriegelt. Die Maßnahmen der Regierung werden immer drastischer. Nur ein einzelner Arzt lässt sich von der unheimlichen Epidemie nicht entmutigen und kämpft gegen alle Widrigkeiten, gegen Mutlosigkeit, Isolation und Hysterie, beseelt allein von einer übermenschengroß erscheinenden Hoffnung und Empathie.
Präzise, kühl und distanziert schildert Camus, wie die Panik allmählich die Gesellschaft bis in ihre Grundfesten zersetzt. Der Schwarze Tod höhlt die Gesellschaft aus. Natürlich ging es Camus nicht um das gut oder schlecht funktionierende Gesundheitssystem in der Hafenstadt Oran von 1947, in der seine fiktive Geschichte angesiedelt ist, sondern um die Menschen. Um den Argwohn und das Misstrauen gegenüber den Nachbarn, aber auch um die Solidarität und Humanität angesichts einer derart existenziellen Krise. Denkt man an die singenden Menschen auf den Balkonen in Florenz, scheint Camus’ Text bis heute zu passen. Mondlandung hin, Smart-phone her – der Mensch hat sich nicht wesentlich verändert. Was Drohung sein kann, aber auch Glück.
Der spätere Nobelpreisträger hat den Roman während des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Schon deswegen hat man die Seuche immer als Metapher für Krieg, Faschismus und später für Stalins Diktatur gesehen. Alles Herrschaftsformen, die als verheerende Naturkatastrophen empfunden wurden – und doch stets von Menschenhand verursacht wurden. Die Pest bei Camus, das war das Böse im Menschen, das von Deutschland aus seinen Weg in die Welt nahm.
In Frankreich ist „Die Pest“ seit Jahrzehnten Schullektüre. In Italien ist das Buch seit gut einer Woche vergriffen. Aber auch die Münchner verlangt es in Zeiten von Corona nach thematisch passender Lektüre: Franz Klug, Chef der Buchhandlung Lentner im Rathaus, bestätigt, dass auch die deutsche Übersetzung des Camus-Textes momentan nicht lieferbar ist. Man könne es aber vormerken und in zehn Tagen spätestens mit der Lektüre beginnen. In den Laden allerdings darf man sich dann erst einmal nicht mehr begeben. Ab heute läuft das Geschäft nur noch online und per Lieferung direkt nach Hause.
Albert Camus:
„Die Pest“. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Rowohlt, 349 S.; 10 Euro.