Der Wahrheitssucher

von Redaktion

INTERVIEW Schriftsteller Uwe Timm feiert heute seinen 80. Geburtstag

Uwe Timm, obwohl gebürtiger Hamburger, hat in München Wurzeln geschlagen; seit seinem Philosophie- und Germanistikstudium, seit seinem 68er-Sturm-und-Drang an der Uni ist er der Stadt verbunden. Timm hat sich viel mit Gesellschaftstheorien beschäftigt, der Künstler in ihm hat freilich immer die Liebe zum Menschen in all seinen Schattierungen gegen das Verkopfte durchgesetzt. Das macht seine Bücher so lesenswert. Heute wird der große Schriftsteller 80 Jahre alt. Und wenn Büchermuffel denken, den kenne ich nicht, dann sei ihnen nur zugerufen: „Rennschwein Rudi Rüssel“ und „Die Entdeckung der Currywurst“!

Unvermeidliche Frage: Wie feiern Sie in Zeiten von Corona Ihren Geburtstag?

Eigentlich wollten wir im Münchner Literaturhaus feiern. Da wären 200 Menschen gekommen, die mir lieb sind, – und jetzt feiern wir zu zweit: meine Frau und ich.

Sie dürfen nicht mal die Enkel bei sich haben.

Die drei Kinder und die fünf Enkel nicht. Das muss man ein bisschen existenzialistisch sehen, dann hat das seinen Sinn. Vor allem kann ich mein Wunschessen genießen; das verrate ich Ihnen jetzt: Es ist Kartoffelmus, wie wir in Norddeutschland sagen, Spinat, und zwar Rahmspinat, und Spiegelei.

Keine Currywurst?

Die spielt da keine Rolle.

Sie sind Zeitzeuge, haben die Entwicklung der Bundesrepublik durchschritten.

Ich habe den Übergang nach dem Krieg als Kind erlebt. Als die US-Truppen am 24. April 1945 kamen, habe ich die ersten schwarzen Menschen gesehen. Damit änderten sich die Verhaltensweisen der Erwachsenen. Die deutschen Uniformträger hatten immer rumgebrüllt, und auf einmal waren sie verschwunden. Das war ein tiefer Eindruck – auch durch die GIs, die Kaugummi und Schokolade verschenkten. Eine Armee, die so gute Schokolade hatte, musste einfach gewinnen. Das war ein Einschnitt in der Mentalitätsgeschichte der Deutschen.

Und später?

Die alten Nazis hatten noch lange das Sagen, und wir haben dagegen demonstriert. Achtundsechzig – das war nicht nur der Protest gegen den Vietnamkrieg, sondern auch gegen die Generation der Väter, die immer noch in Amt und Würden waren. Die Demokratisierung hat durch meine Generation einen großen Schub bekommen: Mitbestimmung, Rechte für Minderheiten, Antikolonialismus, mehr Gleichbehandlung, eine humane Pädagogik – ich bin ja noch geprügelt worden – und Psychiatrie. Diese Bereiche hängen alle mit der 68er-Bewegung zusammen. Problematisch war das Verhältnis der Geschlechter. Die Männer dominierten. Aber „Weiberräte“, so nannten sie sich selbst, haben dagegen gekämpft.

Gibt es ein Fazit?

Ich denke, die Bundesrepublik ist heute viel demokratischer. Sie hat sich in erstaunlicher Weise entwickelt. Ich bin froh darüber, und deshalb lebe ich hier. Natürlich gibt es noch große Probleme, gerade was Arm und Reich betrifft. Das ist empörend: Es gibt 13 Millionen Menschen bei uns, die an der Armutsgrenze oder darunter leben.

Sie lassen den Leser – bei aller Kunst der Erzählung – oft sehr nahe an sich heran. Auch bei extrem sensiblen, intimen Stoffen wie etwa bei „Am Beispiel meines Bruders“. Er war bei der Totenkopf-SS. Warum das Risiko?

Für mich bedeutet Literatur auch Wahrheitsfindung. Das meint, dass man die Fragen, die man sich stellt, wahrhaftig beantwortet. Das ist das Wunderbare an Literatur: Wenn sie gute Literatur ist, drückt sie sich nicht um Schweres herum, sondern sie stellt sich den Fragen, die vielleicht schmerzhaft sind. Ich bin lange an dem Tagebuch meines Bruders vorbeigegangen; schließlich wollte ich jedoch wissen, wie es kommen konnte, dass sich dieser Junge mit 18 Jahren freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat. Was ist der Hintergrund? Wir wurden ja alle so erzogen, dass Tapferkeit eine extrem bedeutende Kategorie war. Noch wichtiger: Gehorsam! Die Krux der deutschen Mentalität. Und Pflicht. Und Ordnung. Diese Konstellation war von den jungen Menschen so internalisiert worden, dass sie, wie das Beispiel meines Bruders zeigt, bereitwillig getötet haben – und sich haben töten lassen. Das ist das Unfassliche. Man hat ihnen das Mitleid mit sich selbst ausgetrieben. Aber nur wer das hat, fühlt Empathie mit anderen.

Trotzdem: Man ist bei dieser Arbeitsweise als Autor sehr verletzlich.

Wissen Sie, das Buch ist mir nicht leicht gefallen. Als es fertig war, dachte ich: Da werden, wenn es hochkommt, 10 000 Exemplare gedruckt. Das Erstaunliche war, dass sich die Verkaufszahlen ganz anders entwickelt haben – sie lagen bei über 150 000 Büchern, und zwar Hardcover. Es ist vielleicht doch ein Buch, das viele Fragen anspricht. Und nicht nur in Deutschland. Viele haben verdrängt, dass es Nazis in der eigenen Familie gab. Der Opa wurde plötzlich zum Widerstandskämpfer. Um das Entsetzliche des Nationalsozialismus zu verstehen, muss man in die alltägliche Bewusstseinslage einer Familie hineingucken. Sonst ist es nicht nachvollziehbar.

Junge Menschen, ja Kinder, sind Ihnen nach wie vor wichtig. Das hat mit „Rennschwein Rudi Rüssel“ und den anderen Kinderbüchern nicht aufgehört.

Ich habe das Glück, dass ich unter meinen Lesern viele junge habe – nicht nur Grauköpfe wie mich. Bei Lesungen sind ein gutes Viertel, ein Drittel junge Menschen im Publikum. Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass die Bücher „Die Entdeckung der Currywurst“ und „Am Beispiel meines Bruders“ Schullektüre geworden sind.

Und Ihr künstlerisches Interesse an einer jungen Persönlichkeit?

Ich interessiere mich für Jung und Alt. Ich bin wirklich neugierig und merke mir das, was man mir erzählt. Aber ich schreibe nicht absichtlich so, damit ich der Jugend gefalle.

In Ihrem aktuellen Essayband  „Der Verrückte in den Dünen“ berichten Sie von Yanneck, den Sie in Berlin gefunden haben – in einem Grab; wie ja auch die Fliegerin Marga von Etzdorf, der Sie sich in „Halbschatten“ näherten. Als Sprayer war der junge Bursche tödlich verunglückt. Es scheint, Sie wollen dieses Schicksal künstlerisch aufgreifen?

Ja, darüber sollte ich weiter schreiben. Ich habe viele seiner   Freunde  getroffen, die in   dieser  Writer-Szene waren oder noch sind. Daneben gibt es das Phänomen, dass sich in ihr eine besondere Ästhetik herausgebildet hat. Da ist einerseits die Gefahr – die suchen sie, die Illegalität –, andererseits ein hoher Ästhetizismus. Das erinnert mich an Ernst Jünger.

Die jungen Männer wollen wild sein, ihre Kunst ist aber nicht wild.

Es ist keine individuelle Kunst. Sie wollen die Öffentlichkeit. Sie haben den Anspruch, dass das, was sie machen, perfekt ist.

In dem erwähnten neuen Buch wird vor allem das Phänomen der Utopie erforscht: die gefährliche und die ungefährliche.

Es ist für mich ein bedeutsames Buch. Die Utopie brauchen wir, sie begleitet uns. Ohne dieses Denken nach vorn, ohne Hoffnung könnte man gar nicht leben. Aber immer dann, wenn eine Utopie sehr genau ausgearbeitet, wenn sie schnittmusterhaft, wenn sie exakt definiert wird, wie es beispielsweise beim Marxismus passierte, besteht die Gefahr, dass sie zum Totalitären neigt. Wo liegt die Grenze? Wie prekär ist das bei der Utopie, bei gesellschaftlich entworfener Modellhaftigkeit? Wo kippt die Utopie um in staatlichen Terrorismus – das hat mich fasziniert.

Und doch halten Sie an der Utopie fest.

Mit Ernst Bloch setze ich auf das „Prinzip Hoffnung“, auf die konkrete Utopie. Und: In jeder Dystopie, auch in der, in der wir gerade leben, gibt es Momente, die etwas Utopisches haben. Jetzt die gegenseitige Hilfe, dass Leute miteinander singen, oder einer vom Balkon herab mit der Trompete „Freude, schöner Götterfunke“ spielt. Das war ziemlich falsch, das war lustig. Dass so kreative Momente aufbrechen, ist schön. Außerdem wird unser Konsumverhalten auf den Prüfstand gestellt. Das finde ich zentral!

Obwohl Sie oft das Schlimmste im Menschen aufgreifen, erzählen Sie ohne Besserwisserei.

Das würde ich nie wollen. Ich habe niemals Lösungen formuliert. Nicht mal in dem Utopie-Buch. Ich versuche, die Probleme auseinanderzulegen. Das geht mir genauso bei Menschen. Ich möchte sie verstehen. Etwa in „Ikarien“ den Eugeniker und Rassenhygieniker Alfred Ploetz – der ist ja der Großvater meiner Frau –, der mit bestem Gewissen und Wollen als Sozialist anfing. Und irgendwo war der Punkt, an dem das umschlug. Er sagte, man kann die Menschen nicht gesellschaftlich verbessern, man muss bei der Vererbung ansetzen. Das beschäftigt uns heute auf ähnliche Weise. Im Silicon Valley etwa arbeitet man am Transhumanismus. Das ist hoch gefährlich. Und der Virus jetzt, den hätte ein Eugeniker erdacht haben könne: Die Seuche richtet sich vor allem gegen Alte und Kranke.

Das Gespräch führte Simone Dattenberger.

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