Das öffentliche Leben macht Pause. Theater und Kinos, Oper und Konzertsäle, Hallen und Live-Clubs, Bibliotheken und Museen haben wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Normalerweise sind wir Kulturredakteure und unsere freien Kritiker für Sie, liebe Leserinnen und Leser, Tag für Tag und Abend für Abend unterwegs, um über das Kulturleben in München und Bayern zu berichten. Die Zeit der Zwangspause nutzen wir nun, um innezuhalten – und uns zu fragen, welches Ereignis, welcher Künstler, welche Musikerin, welches Werk uns einst für Kunst und Kultur begeistert hat? Die natürlich absolut subjektiven und individuellen Antworten drucken wir von heute an in loser Folge – und hoffen, dass die Texte auch für Sie Entdeckungen bereithalten. Diese Folge bestreitet Zoran Gojic, der für uns vor allem Musik- und Filmkritiken schreibt.
Das erste Mal sind Anton Tschechow und ich uns begegnet, als ich 15 war, wenn ich mich richtig erinnere. Die Voraussetzungen waren ideal: Es waren Sommerferien, und ich hatte nichts Besonderes vor, als ich im Bücherregal meines Cousins auf einen Erzählband von Tschechow stieß. „Den musst du unbedingt lesen!“, sagte mein Cousin. Das tat ich. Und wie soll man das sagen: Der Mann sprach zu mir. Die präzisen, doppelbödigen Skizzen über Menschen, die irgendwie versuchen durchzukommen in dem Irrsinn, den wir Leben nennen – das hat mich sofort gefesselt.
Der Humor hat mir gefallen, natürlich. Und diese prägnante Sprache, diese glasklaren Sätze, in denen kein Wort zu viel herumsteht, das hat mich fasziniert. Diese virtuose Beiläufigkeit, mit der Tschechow in leichten Strichen Charaktere und Dramen zeichnet, das war hypnotisch. Vor allem aber hat mir die Haltung hinter der Sprache gefallen. Anton Tschechow erzählt mitunter rasend komisch, manchmal bestürzend traurig, aber er hat immer Herz. Er macht sich nicht über die Menschen lustig, er findet es nur komisch, wie sich alle verrenken, Chancen verpassen, Chaos stiften, sich in idiotische Situationen bringen.
Ich besorgte mir die sehr schöne Diogenes-Ausgabe, die der glühende Tschechow-Verehrer Peter Urban kongenial übersetzt und herausgegeben hatte. Die Erzählungen sind dort nach Entstehungsjahr gegliedert, und so fiel einem beim Lesen irgendwann auf, wie sich im Laufe der Zeit fast unmerklich kühle Schatten über die Geschichten legen. Sie werden melancholischer, einige geradezu rabenschwarz und sind dabei immer noch derart klar, dass es einem fast wehtat.
Wer das einmal nachvollziehen will, kann sich beispielsweise „Der schwarze Mönch“ vornehmen. Wie sich ein Mann buchstäblich langsam von seinem Leben verabschiedet, das lässt niemanden kalt. Oder „Gram“, eine der bekanntesten Kurzgeschichten. Ein alter Kutscher trauert um seinen verstorbenen Sohn, aber keiner seiner Fahrgäste hört ihm zu. Nicht aus Boshaftigkeit. Man ist eben in Gedanken wo anders, ist mit sich selbst beschäftigt. Am Ende erzählt der Mann seinen Pferden von seinem Sohn.
Diese Geschichten bewegten mich zutiefst. Weil sie sich nicht erhoben über die Menschen, die sie beschreiben. Es stimmt: Sie waren dumm, selbstsüchtig, ignorant. Aber selber ist man ja auch so, dieser Gedanke lugt immer zwischen den Zeilen hervor. Es gibt Autoren, die begleiten einen durchs Leben, aber kein anderer Schriftsteller ist ein so treuer und hilfreicher Weggefährte wie Anton Tschechow, dessen Brillanz man erst so richtig zu durchdringen vermag, wenn man ein bisschen älter wird und erkennt, wie akkurat Tschechow die Seele des Menschen durchleuchtet und verstanden hat.
Später, als ich begann, mich mit Tschechows Biografie zu befassen, wich meine Bewunderung blanker Ehrfurcht. Dieser erstaunliche Mann, dessen Vater noch als Leibeigner auf die Welt gekommen war und der in seiner Jugend nur Entbehrung kennengelernt hatte – der befreite sich aus eigener Kraft aus dieser Existenz. Von der religiösen Bigotterie, der Obrigkeitshörigkeit, der kleingeistigen Furcht vor der Welt, dem Dünkel der Klassengesellschaft. Er wurde Arzt und schrieb nebenbei, um sein Studium zu finanzieren. Abends am Küchentisch, umgeben von seiner lärmenden Großfamilie, die er ein Leben lang durchgefüttert hat. Auch als Tschechow von der Schriftstellerei sehr gut leben konnte, behandelte er kostenlos die arme Landbevölkerung und baute auf eigene Kosten Dorfschulen. Wenn man seine zahllosen Briefe und Tagebucheinträge durchliest, könnte man glauben: wider besseres Wissen.
Er machte sich keine Illusionen über die Rückständigkeit in seiner Heimat und das Ausmaß der menschlichen Trägheit und Dummheit im Allgemeinen. Ja, er war umgeben von trinkenden Schwächlingen, ahnungslosen Dummschwätzern und arroganten Blendern. Aber aufgeben deswegen, das kam nicht infrage. Arbeiten muss man eben und sich selber immer genau im Blick haben.
„Unzufriedenheit mit sich selbst bildet ein Grundelement jeden echten Talents“, meinte Tschechow. Er wusste schon früh, dass er nicht alt werden würde – die Schwindsucht breitete sich in seinen Lungen aus. Dennoch findet man bei ihm nie eine Spur von Verbitterung, Nihilismus oder Gleichgültigkeit. Als es mit nur 44 Jahren zu Ende ging, trat er so ab, wie er gelebt hatte: mit Haltung. Er öffnete eine Flasche Champagner, der einzige Luxus, den er sich gelegentlich leistete, und rief seinen deutschen Arzt. Dem teilte er auf Deutsch mit: „Ich sterbe.“ Und starb. Mehr gab es auch nicht mehr zu sagen. Wahrscheinlich sagte er es mit einem feinen Lächeln, das man auf so vielen Fotos bei ihm sieht. Der Mann ist mein Held. Und der beste Freund, den ich nie getroffen habe.