Entgrenzte Ekstase

von Redaktion

UNSERE KULTUR-ENTDECKUNGEN Anna Schürmer und ihre Vorliebe für Elektronika

Das öffentliche Leben macht Pause. Theater und Kinos, Oper und Konzertsäle, Hallen und Live-Clubs, Bibliotheken und Museen haben wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Normalerweise sind wir Kulturredakteure und unsere freien Kritiker für Sie, liebe Leserinnen und Leser, Tag für Tag und Abend für Abend unterwegs, um über das Kulturleben in München und Bayern zu berichten. Die Zeit der Zwangspause nutzen wir nun, um innezuhalten – und uns zu fragen, welches Ereignis, welcher Künstler, welche Musikerin, welches Werk uns einst für Kunst und Kultur begeistert hat. Die natürlich absolut subjektiven und individuellen Antworten drucken wir von heute an in loser Folge – und hoffen, dass die Texte auch für Sie Entdeckungen bereithalten. Heute ist Anna Schürmer dran, die für uns Musikkritiken schreibt.

VON ANNA SCHÜRMER

An normalen, Corona-freien Wochenenden, nach einem Besuch im Gasteig oder Herkulessaal, wo ich Bach oder Boulez, Wagner oder Widmann, Sibelius oder Stockhausen höre, treibt es mich oft noch zu weiteren musikalischen Ereignissen: Zwei Stunden habe ich stillgesessen und kontrolliert nicht zwischen den Sätzen, sondern nach den Stücken geklatscht; habe kontemplativ gelauscht und reflektiert zugehört. Nun suche ich das unmittelbare Erleben einer Musik, in der körperlich erfahrbare Bässe über Melodien dominieren, wo Ekstase die Emotionen überwiegt und wild getanzt statt distinguiert applaudiert wird. Tatsächlich ist meine Praxis als Kritikerin weitgehend auf Klassik und Elektronika beschränkt. Das ist kein Spleen, sondern nur logisch: Symphonische Orchestermusik und Techno haben miteinander weit mehr gemein als mit der Popmusik, wo kurze Häppchen von maximal drei Minuten dominieren, angereichert mit einfachen Texten und eingängigen Melodien.

Diese Verwandtschaft zeigt sich in den Sets der DJs, die den breit angelegten Sätzen der Symphonik nicht nur namentlich nahestehen. Sie manifestiert sich in der weitgehend instrumentalen Anlage und der Neigung zur Überwältigungsästhetik: Das Rauschhafte der spätromantischen Musik spiegelt sich im berauschten Klangerleben auf den Dancefloors, wo der/die DJ wie Dirigenten aktiv sind, die sich mangels Symphonieorchester einfach umgedreht und ihrem tanzenden Publikum zugewandt haben…

Lange hieß es unter Bildungsbürgern, Techno habe doch mehr mit einem Presslufthammer als mit Musik zu tun. Dabei sind die Elektronika ebenso wenig in eine Schublade zu zwingen wie die Klassik. Bei Letzterer reicht die Bandbreite von den epochalen Spielformen des Barock und der Wiener Klassik über Romantik bis zur Moderne. Und alles spreizt sich zwischen Solo und Orchestersatz. Beim Techno gibt es Untergruppen von Trance und Industrial über House und Acid bis zu Intelligent Dance Music, wo mit innovativen Soundeffekten und rhythmischer Komplexität Klangwelten erforscht werden. Die wiederum stehen der avancierten Kunstmusik deutlich näher als dem Pop.

Und genau in dieser Bandbreite liegt das Potenzial der Elektronika: Nicht hedonistischer Vergnügungswillen ist also mein Antrieb, sondern auch das Interesse für eine neue Ästhetik, die mit den alten Maßstäben von „U“ und „E“, von Unterhaltung und Ernst, nicht mehr zu fassen ist. Die technologische Evolution verändert Produktion und Wahrnehmung von Musik, die unter digitalen Vorzeichen in eine neue Ära eingetreten ist: Hybridisierung, also die Mischung von getrennten Systemen, ist das Merkmal unseres digitalen Zeitalters. Und das trifft auf meine Musik umso mehr zu.

Zu den Merkmalen dieser Ästhetik gehört auch der Faktor Entgrenzung – ob bei Elektronika oder Klassik. Die tontechnischen Errungenschaften unseres Medienzeitalters garantieren für werkgetreuen Genuss auch in den Wohnzimmern. Ob per Schallplatte, CD oder Internet-Streaming aus den leeren Sälen und Clubs: Nutzen Sie wie ich die Corona-Krise für technologisch entgrenzten Musikgenuss daheim.

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