Es könnte so schön sein: Die Natur eskaliert, es blüht, duftet, summt und wärmt. Doch, ach, derzeit geht wenig in Sachen Jauchzen, Frohlocken. Just in Zeiten von Einsamkeit und Tristesse schickt uns Cornelia Funke einen Silberstreif aus Magie: 13 Jahre nach dem Ende ihrer Trilogie gibt es Neuigkeiten aus der Tintenwelt! „Eigentlich wollte ich euch alle ja erst Ende nächsten Jahres wieder mit in die Tintenwelt nehmen. Schließlich habe ich ,Die Farbe der Rache‘ noch nicht zu Ende geschrieben“, so Cornelia Funke. „Aber dies sind schwere Zeiten, und Geschichten werden in solchen Zeiten besonders gebraucht.“
Daher habe sie sich entschlossen, die ersten 15 Kapitel des neuen Buches, das erst im Herbst 2021 erscheinen soll, schon vorab zu veröffentlichen. Am Freitag las ihre ganz persönliche Zauberzunge, der Schauspieler und ihr Hörbuch-Sprecher Rainer Strecker, auf dem Youtube-Kanal ihres Labels Atmende Bücher das erste Kapitel mit dem Titel „Die Wege des Bösen“. Für 20.15 Uhr war diese besondere Premiere angekündigt, doch schon weit vorher tummelten sich im Chatverlauf die Fans. Sogar aus Südkorea und den USA meldeten sich in Vorfreude verzückte Funke-Freunde, ihre Bücher wurden ja in 23 Sprachen übersetzt, Hollywood verfilmte den ersten Band „Tintenherz“ – ein Blockbuster: „Ich freue mich wie Bolle“, schrieb einer. Ein anderer: „Das ist wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen.“ Eine andere versprach der teils nicht-deutschsprachigen Community, den Inhalt des ersten Kapitels sogleich danach auf Englisch zusammenzufassen.
Wenn das keine internationale, selbstlose Völkerverständigung ist! Da können EU, UNO und wie sie alle heißen tatsächlich noch was lernen. Endlich wurde das schwarze Fenster bunt – und Rainer Strecker, leger mit aufgeknöpftem weißen Hemd und dunkler Brille in seinem Wohnzimmer vor einer Bücherwand sichtbar. Nach ein paar Worten zu Funkes Entschluss – er spricht von „wunderbarer Sensation“ – gab’s eine kurze Einleitung: Der vergangene Band „Tintentod“ liegt 13 Jahre zurück und endete mit dem Tod von Ober-Bösewicht Natternkopf. Resa, Mo, Meggie, Roxane und Staubfinger leben glücklich und zufrieden in der Tintenwelt – nur einer nicht: Orpheus, Zauberzunge (er kann Figuren aus Büchern herauslesen), Opportunist, Narzisst und ewiger Konkurrent von Fenoglio, der einst die Tintenwelt mit ihren Figuren erschuf. Er ist frustriert, muss als Lehrer sein Dasein fristen und fühlt sich doch eigentlich zu Höherem berufen.
In der Tintenwelt sind fünf Jahre seit Natternkops Dahinscheiden vergangen, und Orpheus grübelt, an wem er sich für sein erbärmliches Leben zuerst rächen soll: An dem undanbaren Gaukler Staubfinger oder doch lieber an Fenoglio? Sofort ist man wieder drin, in dieser besonderen Funke-Welt. Großartig, wie Strecker ihre detailreiche Sprache umsetzt und vorträgt, nicht nur, dass er die Stimme verstellt, mit Mimik und Gestik Orpheus’ Boshaftigkeit unterstreicht und in diesen Charakter hineinschlüpft. Eine wahre „Zauberzunge“, heißt es in den Kommentaren nicht umsonst. Leider macht der Stream immer wieder schlapp, das Bild „friert“ zum Kummer der Fans oft ein. Da jedoch das erste Kapitel seit Freitag auch anderweitig, etwa auf Spotify, Deezer oder iTunes gestreamt werden kann, sind die Lücken zumindest aufholbar.
Doch zurück zur Hauptfigur dieses ersten Kapitels: Beim Unterrichten der 14-jährigen Bäckerstochter Severina Haberkorn bemerkt Orpheus, dass diese über ihm völlig unbekannte Fähigkeiten verfügt. Sie kann, wie sie von ihm eingeschüchtert gesteht, „Jungs in sich verliebt machen“ und hat sich ihre Nase verschönert. „Worte, die nach Nesselsaft und Blut schmecken“, heißt es so schön. Woher Severina die Gabe hat? „Hexen!“
Damit führt Funke eine neue Art fantastischer Wesen in ihre Tintenwelt ein – und gibt einen unheilvollen Hinweis darauf, wie es weitergehen könnte. Kopfkino! Nach etwa 35 Minuten ist das erste Kapitel leider schon ausgelesen. Strecker verabschiedet sich mit persönlichen Worten: „Ihr fehlt mir, bleibt gesund und seid liebevoll zueinander.“ In etwa zweiwöchigem Rhythmus sollen nächsten Kapitel auf Youtube folgen. Der nächste Termin war zunächst noch unklar.