Das öffentliche Leben macht Pause. Theater und Kinos, Oper und Konzertsäle, Hallen und Live-Clubs, Bibliotheken und Museen haben wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Normalerweise sind wir Kulturredakteure und unsere freien Kritiker für Sie, liebe Leserinnen und Leser, Tag für Tag und Abend für Abend unterwegs, um über das Kulturleben in München und Bayern zu berichten. Die Zeit der Zwangspause nutzen wir nun, um innezuhalten – und uns zu fragen, welches Ereignis, welcher Künstler, welche Musikerin, welches Werk uns einst für Kunst und Kultur begeistert hat? Die natürlich absolut subjektiven und individuellen Antworten drucken wir in loser Folge – und hoffen, dass die Texte auch für Sie Entdeckungen bereithalten. Heute lesen Sie Gabriele Luster, die für uns Musikkritiken schreibt.
Natürlich war es auch bei mir „Hänsel und Gretel“. Humperdincks Oper, die in ihrer Wagner-Nachfolge musikalisch ein „schweres Geschütz“ ist, bot als vertrautes Märchen die erste Berührung mit dem Musiktheater. Im Trierer Stadttheater saß ich als Zehnjährige – im Sonntagskleid – zwischen meinen Tanten in der ersten Reihe. Schon einige Jahre zuvor hatte ich Theaterluft geschnuppert: Als Dreijährige erlebte ich mit meiner Patin „Hans im Glück“. Damals thronte ich auf einem hohen Kontrabassisten-Hocker im Orchestergraben und begrüßte lauthals ihren Cousin, der die Titelrolle spielte.
Ich durfte also von klein auf nah dran sein am Geschehen auf der Bühne, das mich bis heute fasziniert. „Hänsel und Gretel“ hatten mich nach mehreren Weihnachtsmärchen und Schillers „Wilhelm Tell“ spontan mit dem Opern-Bazillus infiziert. Das Staunen darüber, dass ein Mann (sogar den Namen weiß ich noch: Rudi Lehmann) die Hexe sang, war groß; Gretel und Hänsel bildeten wunderbare Identifikationsfiguren. Wenig später schwor ich dann, dass der dicke Osmin in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ ein gewichtiger alter Mann sei, und war höchst erstaunt, als man mir einen jungen, schlanken Bassisten zeigte.
Vom frühen Live-Erlebnis befeuert, wünschte ich mir alsbald einen Plattenspieler. Den gab es in unserer Familie nämlich nicht. Da wurde vielmehr Klavier gespielt und gesungen. Mozart- und Beethoven-Platten bildeten den Grundstock. Auf einer Gesamtaufnahme von „La bohème“ hörte ich dann erstmals Renata Tebaldi und zog viele Jahre die engelsgleiche Schönsängerin der flammenden Callas vor. Das änderte sich… Aber die Liebe zum schönen Gesang blieb.
In meiner Heimatstadt Trier saugte ich in Jugendjahren das Repertoire gierig auf: Von Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ und Nico Dostals „Clivia“ über Lortzings „Waffenschmied“ bis hin zu „Ariadne auf Naxos“. Letztere fand ich besonders toll, weil Richard Strauss als „modern“ galt.
Von meinem Schreibtisch im Teenager-Zimmer aus sah ich direkt auf den Künstlereingang des neuen Trierer Theaterbaus am Augustinerhof. Dort durfte ich dann als Gymnasiastin und Mitglied im Städtischen Musikverein erstmals auf die Bühne: Wagners „Lohengrin“ stand auf dem Spielplan, und im Extra-Chor erlebte ich mit meinen Freundinnen, was hinter den Kulissen los ist. In 16 Aufführungen schmetterten wir unser „Heil dir, Elsa von Brabant“. Das war die Zeit, als ich entschied, Kritikerin zu werden.
Weiter ging’s im Extra-Chor mit Mozarts „Zauberflöte“. Für ein einmaliges Gastspiel im niederländischen s’Hertogenbosch verabschiedete ich mich kurz vor dem Abitur vorübergehend bei meiner Mathe-Lehrerin. Sie sagte nur: „Wenn du meinst, dass du es dir leisten kannst.“ Ich hoffte es zumindest – und war weg. Den Höhepunkt der Extra-Chor-Karriere bildete Verdis „Macbeth“ mit Grace Bumbry als Lady. Damit dankte die Star-Sängerin dem damaligen Intendanten für die frühe Förderung kurz nach ihrer Ankunft in Europa. Ganz Trier stand kopf. Ich reiste für jede Aufführung aus Saarbrücken an, wo ich mittlerweile studierte.
Ein Semester Salzburg, wohin meine Mutter mich als Schülerin von ihrer Witwenrente mitgenommen hatte, musste sein. Doch statt zur Vorlesung rannte ich ins Festspielhaus, wo ich einen Platz in der Statisterie ergattert hatte. In Karajans „Fidelio“ bewunderte ich aus der Gasse heraus Catarina Ligendza als Leonore, in „Figaros Hochzeit“ mit Karl Böhm am Pult und in der Regie von Günther Rennert schwenkte ich Hermann Prey und Gundula Janowitz ein Blumensträußchen entgegen, im „Wozzeck“ (Karl Böhm/Gustav Rudolf Sellner) stemmte ich als Schankmagd die Bierkrüge. Es war ein Fest. Fortan gab es kein Entrinnen mehr. Ich musste nah dran bleiben.