Wir gehen fremd

von Redaktion

Viele Mitglieder der Münchner Philharmoniker helfen in Corona-Zeiten anderweitig aus

VON MARKUS THIEL

„Hermann, das glaubst du nicht, wer gerade dran ist!“ Wann wird man auch schon mal von Alexandra Gruber angerufen? Und solche erstaunten Reaktionen erntet nicht nur die Solo-Klarinettistin der Münchner Philharmoniker, ähnliche Sätze bekommen auch viele ihrer Kollegen zu hören. Die Philis sind derzeit quasi fachfremd unterwegs. Gemeinsam proben und konzertieren geht nicht, also schiebt man zum Beispiel freiwilligen Telefondienst fürs Kartenbüro.

Immer wieder müssen derzeit Konzerte abgesagt werden. Und als bei den Orchesterverantwortlichen die Idee aufkam, hier könnten doch Musiker eingebunden werden, sagte eine übergroße Zahl zu. Muss also, wie vor einigen Tagen passiert, Händels „Messias“ gekippt werden, bekommt jeder eine Liste mit Kartenkäufern zum Abtelefonieren. Überbracht wird eine Hiobsbotschaft, doch die Reaktionen sind für beide Seiten durchweg positiv bis überwältigend.

„Um das Ausweichquartier in Sendling geht es in den Telefonaten, um die Gasteig-Sanierung oder um akustische Fachthemen“, sagt Christian Beuke, Pressesprecher der Philharmoniker. Eine Tätigkeit zwischen Information, Meinungsaustausch und Seelenmassage: „Manchmal wird auch einfach zusammen geweint.“ Und fast jedes Gespräch mündet in dieselbe Aussage: wie sehr doch die Live-Konzerte fehlen. Die Bereitschaft zieht sich durch alle Orchestergruppen, Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici ist ebenfalls dabei – und trifft dabei auf ebensolche Verblüffung wie Alexandra Gruber. Da die Saison noch nicht offiziell beendet wurde und nach Salamitaktik Konzerte abgesagt werden, kann es also durchaus sein, dass bei dem ein oder anderen Kunden demnächst ein Phili am anderen Ende der Leitung ist.

Julian Shevlin, ebenfalls Konzertmeister, sitzt unterdessen am Münchner Bürgertelefon. Auch eine fachfremde, freiwillige Tätigkeit, die auf das Personalreferat der Stadt zurückgeht. Dort hört und schaut sich eine „Taskforce Personal-Einsatzmanagement“ um, wo zu Corona-Zeiten noch kurzfristig Mitarbeiter gebraucht werden und welche Abteilungen gerade Kapazitäten frei haben. Bratschistin Beate Springorum etwa kam auf diese Weise zum „Nebenjob“ in der Telefonzentrale der Feuerwehr, Nils Schad von den zweiten Geigen ist in der Kleinen Olympiahalle aktiv, wo es Logistisches von Einkaufsdiensten bis zur Verteilung von Masken und Schutzkleidung zu tun gibt.

Ganz ohne Musik geht es natürlich nicht. Deshalb wurde die Aktion „Satzprobe dahoam“ ins Leben gerufen. In Kooperation mit dem Musikbund Ober- und Niederbayern geben Bläser und Schlagzeuger der Philharmoniker Internet-Unterricht. Alles ist gratis, die Teilnehmeranzahl aber begrenzt (Infos unter www.mon.bayern). Nach einer Woche Laufzeit werden bereits rund 1000 Beteiligte verzeichnet. Das Projekt soll auf Streicher ausgeweitet werden, dann in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Musikrat. Und irgendwann, wenn die Corona-Krise überstanden ist und sich im Saal wieder Publikum und Orchester gegenübersitzen, werden beide Seiten feststellen: Wir kennen uns besser.

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