Ehrenplatz in der Theatergeschichte

von Redaktion

NACHRUF Trauer um Rolf Hochhuth, der mit seinem Stück „Der Stellvertreter“ weltberühmt wurde

VON SABINE DULTZ

Übersetzungen in 17 Sprachen. Druckauflage der ersten deutschen, bei Rowohlt erschienenen Ausgabe: 210 000 Exemplare. Hunderte Aufführungen in 25 Ländern, teilweise unter massivem Polizeischutz, begleitet von Protestaktionen aller Art. Und das alles in direkter zeitlicher Nähe zur Uraufführung am 20. Februar 1963 in der Freien Volksbühne Berlin. „Dieses Stückes wegen lohnt es sich, Theater zu machen“, sagte der Intendant und Regisseur Erwin Piscator. Er ahnte, dass „Der Stellvertreter“ die Weltöffentlichkeit erschüttern und dass der 32-jährige, bis dato gänzlich unbekannte Autor Rolf Hochhuth zu internationalem Ruhm gelangen würde. 57 Jahre sind seither vergangen, der Ruhm aber ist geblieben. Am Mittwoch ist Rolf Hochhuth im Alter von 89 Jahren in Berlin gestorben.

Und hätte er nichts anderes geschrieben als den „Stellvertreter“, diese dokumentarische Fiktion über das Schweigen des Vatikans und Papsts Pius XII. zur Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis, ein Ehrenplatz in der Theatergeschichte wäre ihm auch dann gewiss. Denn er rückte damit das Theater aus seiner Randposition ins Zentrum der Aktualität. Ein radikaler Kurswechsel war die Folge. Andere Autoren machten es ihm nach: Peter Weiss, Heinar Kipphardt, Günter Grass. In einer sehr politischen Zeit war das Theater zu politischer Hochform aufgelaufen. Mit den „Soldaten“, einer Tragödie über den Luftkrieg und die Zerstörung der Städte wie Coventry und Dresden, schickte Hochhuth sein zweites Stück ins Rennen, erntete schlechte Kritiken und internationale Öffentlichkeit und Lobpreisung zugleich. Die Aufführung am Nationaltheater London, in deren Mittelpunkt die Figur Churchills steht, wurde verboten, woraufhin Laurence Olivier an ein anderes Londoner Haus wechselte.

Rolf Hochhuth blieb zeit seines Lebens ein äußerst streitbarer Mann. Was ihn so unbequem für die Öffentlichkeit, für die Schriftstellerkollegen wie auch die Theaterintendanten und Kritiker machte, war sein ungebrochenes moralisches Pathos, mit dem er sich keinem Geringeren als Friedrich Schiller verpflichtet fühlte. Das Theater als moralische Anstalt, für viele altmodisch geworden – dafür trat Hochhuth ein: als Autor, Individualist, Outsider und Einzelgänger, der sich niemandem unterwarf, weder einer vorherrschenden öffentlichen Meinung noch irgendwelchen ästhetischen Richtungen. Allein die Wahl seiner Stoffe, der Themen seiner Stücke sind, trotz mancher schriftstellerischen Unzulänglichkeit an sich schon eine hohe künstlerische Qualität, die ihn heraushebt aus dem Gros der Autoren. So verteidigte einst Marcel Reich-Ranicki den Angegriffenen vor Hochhuths Kollegen.

Aber Hochhuth war nicht nur Stückeschreiber. Er verfasste Novellen, Erzählungen, Gedichte, Essays. Beschimpfungen ließ er an sich abperlen wie die des einstigen Bundeskanzlers Ludwig Erhard, der ihn bei einer Rede in Düsseldorf als „Pinscher“ abkanzelte. Und dass er vom früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger verklagt wurde aufgrund der Novelle „Eine Liebe in Deutschland“ (1978), gereichte dem Autor zur Ehre. Den Kläger aber, der als Marinerichter im Zweiten Weltkrieg Todesurteile gefällt hat, zwang es zum Rücktritt. Hochhuth griff das Thema der ehemaligen Nazi-Richter in der bundesdeutschen Polit-Elite 1979 nochmals in seinem Stück „Juristen“ auf.

So viel politischen Einfluss hatte Rolf Hochhuth als junger Mann wohl kaum zu hoffen gewagt. Natürlich, der 1931 in Eschwege an der Werra geborene Fabrikantensohn wollte immer schreiben. Er wollte, wie er sagte, „keine Zeit mit der Schule verplempern“, und verließ sie zum Entsetzen der Eltern nach der Mittleren Reife. Er machte eine Buchhändlerlehre, arbeitete in Universitätsbuchhandlungen, wo er sich einen immensen Lesestoff aneignete, ging dann zu Bertelsmann und erhielt dort jenen Freiraum, um seinen „Stellvertreter“ zu schreiben. Ihn auch zu drucken, dazu fehlte dem Verlagsriesen der Mut, die Fahnen wurden eingestampft. Ein einziges Exemplar gelangte jedoch auf den Schreibtisch von Ledig-Rowohlt. Die Geschichte vom Welterfolg nahm ihren Anfang.

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands hörte Hochhuth nicht auf, sich einzumischen und unbequem zu sein. Er schrieb das Stück „Wessis in Weimar – Szenen aus einem besetzten Land“. 1993 wurde es am Berliner Ensemble uraufgeführt. Spektakulär in jedem Fall, denn der Autor wollte, wenn auch ohne Erfolg, die Premiere verbieten, da die Inszenierung von Einar Schleef nach seiner Meinung das Drama verfälscht habe.

Einem Paukenschlag gleich kam die Mitteilung, dass Rolf Hochhuth über die nach seiner Großmutter Ilse Holzapfel benannte Stiftung Besitzer der Immobilie des Berliner Ensembles sei. Er hatte sie von den Wertheim-Erben gekauft und an das Land Berlin vermietet. Seine Hoffnung, dass in dem einstigen Brecht-Theater nun auch seine Stücke gespielt würden, erfüllte sich nicht. Intendant Claus Peymann lehnte das ab und initiierte damit einen öffentlich ausgetragenen, vergnüglichen Dauerstreit zweier durchaus geltungsbedürftiger Kampfhähne.

In den letzten Monaten (vor Corona) war es still geworden um den Schriftsteller. Sah man ihn doch sonst in beinahe jeder Berliner Premiere; grüne Krawatte, Jackett lässig über die Schulter gehängt, fuhr der Hochbetagte noch fast jugendlich mit seinem Fahrrad vor. Die Kraft hatte ihn wohl verlassen. Sein Werk wird ihn überleben, darunter auch die Verfilmungen „Eine Liebe in Deutschland“ von Andrzej Wajda und „Der Stellvertreter“ von Constantin Costa-Gavras. Rolf Hochhuth war viermal verheiratet, hat aus zwei Ehen drei Söhne. Seinen Platz in der Theater- und Literaturgeschichte kann ihm niemand nehmen.

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