Wer hätte das gedacht: Im vergangenen Herbst wurden sieben neue Fenster im Chor und Oratorium der Giesinger Heilig-Kreuz-Kirche feierlich eingeweiht. Sie bildeten den krönenden Abschluss einer viele Jahre dauernden Grundsanierung dieses mächtigen neugotischen Gotteshauses am Giesinger Berg. Die Corona-Pandemie hat die Glasscheiben nun zum womöglich brisantesten Kunstwerk Münchens gemacht.
Fast 100 Quadratmeter Fläche hat dieses monumentale Opus. Der Münchner Medienkünstler Christoph Brech (Jahrgang 1964), der sich mit Raum- und Zeitstrukturen, Grenzbereichen und existenziellen Übergangssituationen auseinandersetzt, erhielt den Auftrag zur Neugestaltung der Fenster. Sie sollten zu einem zeitgemäßen Erscheinungsbild der historischen Kirche beitragen. Auf der Suche nach einem Motiv für die schmalen, elf Meter hoch aufragenden Chorfenster kam er bei seinen Überlegungen zu den Themen Himmel, Luft und Atem schließlich auch zur Lunge, die vom Thorax, dem Brustraum, geschützt wird. In diesem Zusammenhang fielen ihm die Röntgenaufnahmen ein, die er vor über 20 Jahren aus dem Nachlass eines Giesinger Radiologen erhielt. Er nahm sie zur Grundlage für seine Fensterentwürfe. „Transparenz und Leichtigkeit schienen mir wichtig“, sagt der Künstler, und sein unermüdliches Experimentieren hat sich gelohnt.
Heute fällt das Licht in zarten Blau- und Weißtönen durch die mehr als tausend abgewandelten Thorax-Aufnahmen und verleiht dem Raum eine magische Atmosphäre. Dabei sind die hellen Lungenflügel besonders gut erkennbar. Sie verweisen auf unsere Verletzlichkeit. Der Brustkorb, unser physisches Zentrum – im Mittelalter als Sitz der menschlichen Seele angesehen – tritt uns in den Fenstern enthüllt und schutzlos entgegen. Dabei gleicht keine Aufnahme der anderen.
Brechs Gedanken werden noch von einem weiteren Aspekt durchdrungen. Die Darstellung zeigt nicht nur Menschen, die sich im Inneren ähnlich sind, jenseits von Geschlecht, Hautfarbe, Glaubensausrichtung, sozialem Rang und Alter, sondern sie zeigt auch eine Weltgemeinschaft. Besonders während der Pandemie dringt dies immer mehr in unser aller Bewusstsein. „Manch einer mag in den Fenstern jetzt die neue Rolle von Nachbarschaft und Nächstenliebe sehen“, erklärt der Künstler. Wie sich das Licht in den Fenstern jede Sekunde anders bricht, verändert sich ihre Ansicht, und manchmal wirken die Lungenflügel eher wie die Flügel von Engeln. „Obwohl der Tod stets mitschwingt, denn jeder von uns trägt ihn in sich, so kann man in den Fenstern auch die himmlische Kraft wiederfinden, die stärker ist als physische Endlichkeit“, sagt Brech. „Hoffnung und Liebe als derartige Kräfte gehören dazu, sie können tatsächlich vieles wandeln. Werden die Fenster außerdem als Auferstehungssymbol gesehen, kann dieser Aspekt gerade jetzt sehr tröstlich sein.“
Jeder bringt seine persönlichen Erfahrungen mit in die Betrachtung. Für einen Menschen, der gerade einen Angehörigen verloren hat, bekommen die Fenster eine andere Bedeutung als für jemanden, der einfach die Stille sucht. Manche erinnern sich beim Anblick des Kunstwerks daran, wie es sich anfühlt, frei durchzuatmen, ohne den Druck des Alltags. Daher ist ein Besuch auch nach der Epidemie empfehlenswert – wenn die vorübergehende Entschleunigung wieder aufgehoben ist.
Heilig-Kreuz-Kirche,
München, Gietlstraße 2.