Mozart als Familienprojekt

von Redaktion

UNSERE KULTUR-ENTDECKUNGEN Melanie Brandl in der „Entführung aus dem Serail“

Das öffentliche Leben befindet sich noch immer im Wartezustand. Theater und Kinos, Oper und Konzertsäle, Hallen und Live-Clubs, Bibliotheken und Museen müssen sich wegen der Corona-Pandemie umstellen. Normalerweise sind wir Kulturredakteure und unsere freien Kritiker für Sie, liebe Leserinnen und Leser, Tag für Tag und Abend für Abend unterwegs, um über das Kulturleben in München und Bayern zu berichten. Die Zeit der Zwangspause nutzen wir nun, um innezuhalten – und uns zu fragen, welches Ereignis, welcher Künstler, welche Musikerin, welches Werk uns einst für Kunst und Kultur begeistert hat? Die natürlich absolut subjektiven und individuellen Antworten drucken wir in loser Folge – und hoffen, dass die Texte auch für Sie Entdeckungen bereithalten. Heute ist Melanie Brandl an der Reihe, die Buch- und Theaterkritiken schreibt.

VON MELANIE BRANDL

Zugegeben, es mag nicht das schönste aller Werke von Wolfgang Amadeus Mozart sein. Aber es ist wahrscheinlich eines der multikulturellsten. Dafür sorgt schon die Handlung: Konstanze, die Verlobte des Spaniers Belmonte, wurde samt ihrer englischen Zofe Blonde und ihres Dieners Pedrillo in die Türkei entführt. Dort hat sie der muslimische Spanier Bassa Selim auf einem Sklavenmarkt erworben. Belmonte erscheint, um sie zu befreien, wird aber von dem türkischen Diener Osmin daran gehindert…

Diese sowieso schon krude Mischung aus Sprachen, Kulturen und Nationalitäten hat die Brüsseler Oper La Monnaie im Jahr 1990 bei der Premiere ihrer „Entführung aus dem Serail“, einer Koproduktion mit der Wiener Staatsoper, noch potenziert: Unter der Leitung des deutschen Bühnenbildners und Regisseurs Karl-Ernst Herrmann wurde dieses Werk eines Österreichers unter anderem mit der polnischen Sopranistin Elzbieta Szmytka, die als Blonde zu erleben war, dem sowohl flämisch- als auch französischsprachigen belgischen Publikum in deutscher Sprache präsentiert.

Heraus kam dabei eine unterhaltsame Inszenierung mit bunten Kostümen, einem verspielten Bühnenbild und dem beeindruckenden Schauspieler Hilmar Thate in der Sprechrolle des Bassa Selim. Dieser überlässt die Liebenden trotz seiner eigenen Gefühle für Konstanze am Ende ihrem Glück, statt Rache zu nehmen an Belmonte, der sich – Mozart hat hier wirklich nichts ausgelassen – auch noch als der Sohn seines Erzfeindes entpuppt. Gründe dafür, dass trotz der Anhäufung kitschiger Klischees kombiniert mit ähnlich kitschigen Kostümen ausgerechnet dieses Stück in meinem Kopf haften blieb wie kein anderes, gibt es viele. Zum einen wirkte die bemühte Multikulturalität fast komisch: Wenn zum Beispiel Szmytka mit polnischem Akzent auf Deutsch inbrünstig „Ich bin eine Engländerin – zur Freiheit geboren“ deklamierte, hatte das schon einen gewissen Witz.

Außerdem war diese „Entführung aus dem Serail“ für mich ein einmaliges Familienprojekt: Während mein Vater im Hintergrund als technischer Direktor der Monnaie buchstäblich die Strippen zog, stolzierte meine 15-jährige Schwester verkleidet als Vogel Strauß während der Umbaupausen als Ablenkung für das Publikum durch die Dekoration. Ich selbst durfte 17-jährig als Haremsdame professionell geschminkt auf der ganz großen Bühne posieren und mit dem Statistengehalt die stets zu leere Taschengeldkasse füllen.

Mein Höhepunkt aber war der junge Mann, der die kleinste Sprechrolle des gesamten Stücks als Wache Bassa Selims ergattert hatte: Mit perfekt präparierter Glatze trat er rigoros hervor, verhinderte die Flucht von Belmonte und verkündete mit tiefstem oberbayerischen Akzent einen einzigen Satz: „Sachte, junger Herr, uns entkommt man nicht so leicht!“

Die „Entführung aus dem Serail“ war für mich vielleicht nicht die schönste, aber die wichtigste Kulturproduktion meines Lebens: Meine Liebe zu Theater und Oper wurde damals endgültig entfacht, und ich trällere noch heute bei „Singt dem großen Bassa Lieder“ oder „Ha, wie will ich triumphieren“ lautstark mit. Noch wichtiger ist aber: Den jungen Mann von damals habe ich längst geheiratet.

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