Die Geburt des Bösen

von Redaktion

Suzanne Collins erzählt in „Die Tribute von Panem X“ die Vorgeschichte der Saga

VON KATRIN BASARAN

Es ist zehn Jahre her, seit die US-Autorin Suzanne Collins ihre „Tribute von Panem“-Trilogie um die unfreiwillige Rebellin Katniss Everdeen beendete. Über 100 Millionen Mal wurden die Bücher seither verkauft, Hollywood verfilmte die Reihe mit Jennifer Lawrence. Nun ist doch noch ein neuer Band erschienen: „Die Tribute von Panem X: Das Lied von Vogel und Schlange“ führt bereits die Bestsellerliste an. Zu Recht?

„Snow landet immer oben.“ Ein Mantra, das die 57-jährige Autorin in ihre fein gesponnene, dystopische Geschichte verwebt. Sie macht uns mit dem 18 Jahre alten Coriolanus Snow vertraut, rund 60 Jahre bevor er uns als Antagonist der ursprünglichen „Panem“-Reihe begegnet. Es ist der Tag der Ernte für die zehnten Hungerspiele. Die Niederlage der rebellischen Distrikte gegen das Kapitol liegt also ein Jahrzehnt zurück. Die Spuren des Krieges sind auch in der Hauptstadt noch nicht verblasst und in den Familien spürbar. Coriolanus hat seine Eltern verloren, er lebt mit seiner ebenfalls verwaisten Cousine Tigris bei der Oma.

Doch mit allen Mitteln will Snow den Schein wahren. Den ärmlichen Gestank der täglichen Kohlsuppe etwa versucht er, durch den Duft von Großmutters Rosen zu überdecken. Es gelingt zumeist. Der Spross aus einer der angesehensten Familien ist beliebt, ehrgeizig und gehört an der Akademie zu den Besten der Abschlussklasse. Die Absolventen sollen erstmals eine Mentoren-Rolle für einen der 24 Tribute übernehmen. Snow wird Lucy Gray aus dem 12. Distrikt zugewiesen – aus dem viele Jahre später auch Katniss kommen wird.

Nur: Die Hungerspiele interessieren niemanden. Das soll sich ändern, fordern die Oberen. Mit einem eigenen Konzept für mehr Quote wird Coriolanus zum Instrument des Kapitols. Er ist durchaus sympathisch, wortgewandt, intelligent, gut aussehend – und fasziniert von Lucy Gray, die so schön singen kann. Die Tatsache, dass es bei diesen Spielen für beide ums Überleben geht (dem Sieger-Mentor winkt ein Uni-Stipendium), schmiedet zwischen ihnen erst ein Bündnis, dann ein zartes Band.

Collins’ Sprache: schnörkellos, schnell, pragmatisch, manchmal hart. Sie zieht uns hinein in Coriolanus’ Gedanken. Er ist fähig, sich in kürzester Zeit anzupassen – ob an Forderungen der sadistischen Spielleiterin oder an seine Mitschüler, auf die er insgeheim herabschaut. Er hat keine Freunde, er schmiedet Allianzen. Bei Bedarf werden sie verraten – lächelnd. Dabei ist dieser Bursche, dem daheim oft der Magen knurrt, keineswegs ohne Empathie oder Gewissen. Bisweilen erschrickt er gar über die Konsequenzen seines Tuns. Und er liebt (!) Lucy Gray. Aber was ist er bereit, für sie zu riskieren? Sein Weg zum Tyrannen von Panem scheint jedenfalls nicht vorgezeichnet.

Während Collins ihre Protagonisten in die Arena schickt, reißt sie beiläufig große Themen an: Da ist die philosophische Frage nach der Existenz eines gerechten Krieges. Es geht um genveränderte Tiere, um Manipulation der Massen durch Inszenierung fürs Reality-TV. Denn nichts anderes sind die Hungerspiele: junge Menschen, die in einem Wettbewerb um einen Preis kämpfen, während sie vor Kameras darum buhlen, dass sie das Publikum unterstützt. In Panem ist der Einsatz freilich hoch: das Leben.

Collins’ neuer Roman fasziniert auch, weil er trotz brisanter Thematik jedem eine eigene Lesart zugesteht. Man kann das Buch als die erste zarte, tragische Liebe zwischen zwei Teenagern eingebettet in ein surreales Abenteuer begreifen. Oder mit seiner Hilfe die Psyche eines Heranwachsenden ergründen und darüber nachsinnen, wer oder was unsere Werte prägt. Formt der Mensch den Charakter oder der Charakter den Menschen? „Panem X“ lädt auch zur Reflexion des eigenen Handelns ein.

Enttäuscht wird nur, wer auf die eine Wahrheit, ein Happy End womöglich hofft. Da bleibt Collins gnadenlos, ganz so, wie sie diese Sehnsucht ihren Lesern schon am Ende der Trilogie um Katniss Everdeen versagte. So hallt die Geschichte des Coriolanus Snow, dessen realer Namensvetter aus der Römerzeit als Feldherr sein Volk verriet, noch lange nach. Ein vielschichtiges, hochkomplexes Werk, wahrlich nicht nur für Jugendliche.

Suzanne Collins:

„Die Tribute von Panem X: Das Lied von Vogel und Schlange“. Aus dem Amerikanischen von Peter Klöss und Sylke Hachmeister. Oetinger, Hamburg, 607 S.; 26 Euro.

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