Mit Beethovens letztem großen Klavierwerk scheint Rudolf Buchbinder verschmolzen, so oft hat er die „Diabelli-Variationen“ aufgeführt und eingespielt. Die aktuelle Aufnahme (Deutsche Grammophon) ist noch widerborstiger, schrundiger, unwirscher als die früheren Lesarten – ein tönender Kaktus mit teils giftigen Stacheln gewissermaßen. Entscheidender sind aber Buchbinders Extras auf dieser Doppel-CD. Von elf zeitgenössischen Komponisten erbat er sich ihre Sichtweisen auf das berühmte Thema des Wiener Verlegers und Komponisten Anton Diabelli (1781-1858). Eine extreme stilistische Spreizung ist dabei herausgekommen: von der rastlosen, fast keuchenden Variation eines Brett Dean über die transzendente Leerstellen-Deutung eines Tan Dun oder die Material-Zerlegung eines Johannes Maria Staud bis zu Christian Josts Aufforderung „Rock it, Rudi“ – was sich der Angesprochene nicht zweimal sagen lässt. Humoristisches wagt eigentlich nur Jörg Widmann, der beweist, dass man aus einem Teil des Themas mühelos zum Radetzky-Marsch kommt.
Buchbinders „Diabelli-Projekt“ wird komplettiert durch die Werke jener Komponisten, die sich neben Beethoven am Variationen-Wettbewerb beteiligten. Die Spannweite reicht von Friedrich Kalkbrenner, der Beethovens Ingrimm weitertreibt, über Franz Liszt, der hauptsächlich etwas über sich und seine Virtuosen-Attitüde erzählt, und den Mozart-Sohn Franz Xaver Wolfgang mit seiner hochtourigen Galanterie bis zu Franz Schubert, der Diabellis Vorlage für eine unrettbar melancholische Innenschau nutzt. MARKUS THIEL