Jesus 1938

von Redaktion

Ilana Lewitans Installation „Adam, wo bist Du?“ im Ägyptischen Museum

VON SIMONE DATTENBERGER

„Listen Höret“ steht auf dem schwarzen Bakelittelefon mit Wählscheibe. Darf man dieses Kunstwerk berühren? Mut gefasst, Hörer abgehoben, fremde Stimmen wahrgenommen, bis es auf Deutsch erklingt: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Der Fernsprecher sitzt auf einem Metallstab in Greifhöhe neben einem großen Kreuz, über das in Buchstaben dieser Satz kriecht. Vor dem urchristlichen Symbol schwebt ein übergroßer KZ-Häftlingsanzug mit kräftiger Füllung als Ahnung eines Körpers, aber ohne Kopf, Hände und Füße.

In ihrer Installation „Adam, wo bist Du?“ im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst verknüpft die Münchner Künstlerin Ilana Lewitan (Jahrgang 1961), was nicht zu trennen ist: Judentum und Christentum. Deswegen leitet sie ihre Arbeit mit einem Was-wäre-wenn ein, ähnlich wie Dostojewski in „Die Brüder Karamasow“. Bei ihr ist nicht der Großinquisitor die Bedrohung für Jesus, sondern die Gestapo. Jesus 1938? Als Antwort präsentiert Lewitan dem Kreuz gegenüber einen riesigen Hänger: den Schutzhaftbefehl für einen gewissen Jehoshua Israel ben Joseph, geboren am 24. 12. 1908, ob in Nazareth oder Betlehem markiert das Dokument mit einem Fragezeichen. Der Jude lebt als Obdachloser in München. In einem an die Wand projizierten Film wird der Haftbefehl mit Szenen des aktuellen Antisemitismus und Terrors verknüpft.

Man hätte es aufgegeben, sie aktualisieren zu wollen, merkte Museumschefin Sylvia Schoske bei der Pressevorbesichtigung dazu an. Schließlich gebe es zurzeit dauernd rassistische Vorfälle. Der Kontakt zur Künstlerin sei über Guido Redlich, der sich als Vorsitzender des Freundeskreises für den Zusammenhalt des Kunstareals engagiert, zustande gekommen. Da die Ägyptologin Kunst als altersloses Phänomen einschätzt, ist ihr auch die zeitgenössische Kunst lieb. Die beiden Damen waren sich schnell einig, zumal das Museumsgebäude auf einem Täterort (geplante NS-Staatskanzlei) steht. So durfte Ilana Lewitan nicht nur den Sonderausstellungsraum bespielen, sondern auch in der Dauerpräsentation Akzente setzen. Das jüdische Volk hatte ja allerhand mit den alten Ägyptern zu tun. Deswegen taucht zum Beispiel in der Schauwand zur vieltausendjährigen Geschichte der Nil-Anwohner so ungefähr auf der Höhe von 3200 v. Chr. zwischen Krügen ein Matzenbrot auf. Oder es finden sich zwischen kleinen, feinen Artefakten Pässe: einer der Künstlerin von heute, einer aus der Nazi-Zeit, der auch ihr hätte gehören können.

Wieder taucht das Was-wäre-wenn auf. Was wäre, wenn ich ein anderer Mensch wäre? Wie steht es dann mit der Identität? Charlotte Knobloch (Jahrgang 1932) hätte nicht überlebt, wenn sie nicht ihre Identität in ein christliches Bauernmäderl gewechselt hätte. Oder: Die Persönlichkeit, die als Frau in einem Männerkörper leben musste, wäre verzweifelt, wenn sie nicht zu sich selbst gestanden wäre. Beide retteten ihr innerstes Wesen, das andere Menschen verbiegen, verbieten, verletzen oder gar vernichten wollten. Aus zehn Arzneischränkchen und Notfallkästen heraus erzählen, reflektieren, analysieren acht weitere Individuen. Und uns Hörern wird schnell klar, sie und ihre Geschichten sind Medizin für uns.

So zieht Ilana Lewitan das von ihr angedeutete Netz von Nähe, Abhängigkeit und Unterdrückung von Juden und alten Ägyptern, von Juden und Christen weit auf. In ihm haben sich alle Ausgegrenzten, von Behinderten bis Geflüchteten, verfangen, aber auch die Ausgrenzer selbst.

Bis 10. Januar 2021,

Di. 10-20 Uhr, Mi.-So. 10-18 Uhr; ein kostenloses Leporello führt zu all jenen Objekten, die in die Dauerausstellung „geschmuggelt“ wurden.

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