Ein Perspektivwechsel. Der ist generell im Leben häufig eine Bereicherung, denn er erweitert den Horizont, trägt zu einem tieferen Verständnis bei und lädt ein zur Reflexion. So geschieht es auch im Gärtnerplatztheater. Zum einen bekommt das Publikum optisch einen neuen Blick. Auf der Bühne nehmen die 50 Personen Platz und schauen in den prachtvollen Zuschauerraum. Die Mitglieder des Orchesters spielen an der Rampe, die Sängerinnen und Sänger agieren dazwischen.
Aber neben der neuen Perspektive für die Augen bietet der Abend – und das ist etwas Wunderbares – auch die Möglichkeit, Musik emotional anders wahrzunehmen. Trotz Abständen ist das Geschehen viel näher und dadurch spürbarer als normalerweise. Man kann die Technik der Sänger beobachten, kleinste Gefühlsäußerungen im Gesicht ablesen und die Klangwellen körperlich fühlen. Außerdem bietet die reduzierte Orchesterbesetzung mit einer Person pro Stimmgruppe eine angenehm heimelige Intimität. Es ist wie eine Rückkehr zur echten Salonmusik; als würden Freunde für Freunde zwanglos, aber auf höchstem Niveau musizieren. Voller Liebe für die Sache.
Das Programm ist eine Geburtstagshommage an den König der Operette, Franz Lehár, der am 30. April 150 Jahre alt geworden wäre. Unter dem aktuell dankbaren Titel „Freunde, das Leben ist lebenswert“ hat Fedora Wesseler eine raffinierte, liebevolle Dramaturgie um verschiedene Nummern aus den Operetten gesponnen. Erwin Windegger sinniert als Franz Lehár, in der Mittelloge sitzend, anekdotengewürzt über sein Leben. Einmal mehr fällt auf, welch famose Stimmen das Ensemble hat: Camille Schnoor und Maximilian Mayer, die im Walzer von „Lippen schweigen“ statt des Tanzes bewegend die Hände aneinanderhalten, ohne sich gegenseitig zu berühren. Oder Lucian Krasznec, der im „Wolgalied“ nicht nur klug und intensiv gestaltet, sondern auch mit tadelloser Messa di Voce, also dem bruchlosen An- und Abschwellen der Stimme, prunkt. Maria Celeng, Frances Lucey und Ann-Katrin Naidu sind pure Frauenpower und ziehen im Tanzterzett aus der „Juxheirat“ das chauvinistische Frauenbild berühmter Dichter durch den Kakao. Juan Carlos Falcón und Alexandros Tsilogannis schwelgen „Leise, ganz leise“ im „Walzertraum“.
Sie alle haben das Gärtnerplatz-Gen: eine spürbare Liebe zu Genre und Publikum. Sie beherrschen das notwendige echte Pathos genauso wie das kleine Augenzwinkern. So transportieren sie die Magie der Operette völlig ungekünstelt und maximal nahbar – trotz „social distancing“.
Das hat auch das Orchester verinnerlicht. Unter der Leitung von Andreas Kowalewitz, der selbst am Klavier sitzt, spielen alle solistisch. Das macht den herrlichen Walzer „Gold und Silber“ völlig transparent. Nebenstimmen sind durchhörbar und bekommen so den Wert, der ihnen zusteht. Eine echte Visitenkarte gibt das Gärtnerplatzorchester damit ab.
Durch Doppelvorstellungen wird versucht, mehr Menschen Einlass zu gewähren. Denn die Nachfrage für die Sonderkonzerte ist groß: Die rund 1500 aufgelegten Karten waren sofort weg. So schön der Blick in den Zuschauerraum auch ist, so sehr lässt er auch das Unverständnis über die kulturpolitischen Pauschalisierungen wachsen: 50 Leute innen – egal ob im Cuvilliéstheater oder in der Philharmonie. Spezifische Hygienekonzepte von allen Veranstaltern liegen vor. Da sollte doch ein individuellerer Umgang für die zugelassene Personenzahl in absehbarer Zeit möglich sein.
Informationen:
www.gaertnerplatztheater.de