Fährt man in den dritten Stock des Literaturhauses, fühlt sich das ein bisschen so an, als würde man in eine Fernseh-Talkshow platzen: eine LED-Wand, davor Sessel, Fernsehkameras, professionelle Studiobeleuchtung. Dabei kennt man diesen Saal ganz anders. Etwa wenn 300 Menschen darin sitzen, dicht an dicht, zuletzt zum Beispiel bei einer Lesung des britischen Autors Jonathan Coe. Das war vor drei Monaten. Seitdem ist der Saal leer, Corona-bedingt. Weil es auch in den nächsten Monaten keine knallvollen Veranstaltungen mehr geben darf, gibt es ein neues Konzept: Literaturfans können sich bald für fünf Euro online zuschalten.
Den Auftakt macht Opernsänger Rolando Villazón – er stellt am 1. Juli seinen Roman „Amadeus auf dem Fahrrad“ vor, eine Hommage an Mozart. Die Corona-Regeln: Maske und Abstand sind während des ganzen Abends Pflicht, nur 50 Menschen dürfen dabei sein. „Wir haben kurz überlegt, bis zum Jahresende gar keine Lesungen mehr anzubieten“, sagt Tanja Graf, 58, Chefin des Literaturhauses. Es sei auf die Eintrittsgelder angewiesen, um den Autoren Honorare zu zahlen. „Wenn nur 50 Leute kommen dürfen, verlieren wir Geld“, erklärt sie.
Einfach aufzuhören, das wäre aber ein falsches Zeichen gewesen, findet Graf. „Wir wollten sowohl unserem Publikum als auch den Autorinnen und Autoren signalisieren: Es geht weiter!“ Und wie es weitergehen sollte, wusste Jo Kieker, 54 – denn auch seine Branche ist in Not. Kieker ist Veranstaltungstechniker, stattet Kongresse, Messen und Open-Air-Konzerte mit Kameras, LED-Wänden und Traversen aus. Anfang März wurden aber alle Veranstaltungen bis Ende August gestrichen. „Wir haben ein Lager, fast 600 Quadratmeter groß, voll mit teurer Technik, mit der wir plötzlich nichts mehr anfangen konnten“, erzählt Kieker. „Aber Kosten wie Miete und Leasing laufen weiter.“ Auf dem Gelände gibt noch weitere Firmen für Veranstaltungstechnik, alle in derselben Lage. „Wir haben uns überlegt: Was könnte uns in dieser Situation noch voranbringen?“
Die Lösung: ein Raum, in dem man Events online übertragen kann. Kieker betreut das Literaturhaus immer wieder für kleine Angebote. „Der Saal hat die perfekte Größe“, meint Kieker. „Also dachte ich, fragst de mal nach, was in dem Raum los ist.“ Und Tanja Graf lachte – nichts war los im Literaturhaus.
Bis jetzt. „Studio Salvatorplatz“, so heißt jetzt der Saal im dritten Stock. Ab kommender Woche finden hier nicht nur Lesungen wieder statt, sondern auch Live-Übertragungen für Pressekonferenzen, Webcasts und Produktpräsentationen. „Normalerweise würden wir Miete für den Raum verlangen“, sagt Graf, „aber so hat jeder etwas davon“.
Jetzt können Literaturfans aus aller Welt dabei sein, wenn Autoren ihre Werke vorstellen. Die Technik steht. „Eigentlich ist eine Lesung ein Gemeinschaftserlebnis“, gibt Graf zu. „Ein kleiner Raum voller Literaturbegeisterter, das Publikum liebt es.“ Das Ganze lebe vom Moment. Umso wichtiger sei deshalb eine professionelle Übertragung. „Wir glauben, dass es einen großen Unterschied macht, ob wir eine Lesung einfach aufzeichnen, oder ob wir ein Streaming-Erlebnis bieten, das so professionell ist, dass wir Geld dafür nehmen können.“ Fünf Euro kostet ein Online-Ticket. Graf ist überzeugt: „Kultur kann nicht nur umsonst sein.“ Das neue Konzept habe viele Vorteile. Über die LED-Wand sollen Filmsequenzen eingespielt werden, man könnte so auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus anderen Ländern zuschalten. Und das Online-Publikum könne von zu Hause aus Fragen stellen.
Für Rolando Villazón hätten sich sogar Gäste aus Budapest und Berlin angemeldet. „Klar, Villazón hat als internationaler Opernsänger überall Fans“, freut sich Graf. „Wir hoffen jetzt natürlich, dass wir in Zukunft mehr Menschen erreichen können als die 300, die hier sonst reingepasst hätten.“ Wie lange das Konzept bleibt, ist noch nicht klar – aber es wecke neue Chancen, meint Tanja Graf.
Karten
für den Live-Stream sind auf www.literaturhaus- muenchen.de erhältlich; der Villazón-Abend ist ausverkauft; ansonsten gibt es reguläre Karten unter Telefon 01806-700 733.