Abflug zum Endspiel

von Redaktion

Finale der Intendanz Lilienthal im Oly-Stadion

VON MICHAEL SCHLEICHER

Super Mario kann sogar Wolkendecken zerreißen. Nach stundenlangem Regen bricht am Samstagnachmittag die Sonne über München durch, lässt das Zeltdach des Olympiastadions funkeln, die Luft über den Sitzschalen auf der Gegengeraden flirren und das Grün des Rasens leuchten. Wer, bitteschön, wenn nicht der unermüdliche Klempner und Hausmeister aus dem Nintendo-Spiel könnte so etwas hinbekommen? Eben. In blauer Latzhose, rotem Hemd und mit ebensolcher Schirmmütze ist er quasi allgegenwärtig in dieser „Opening Ceremony“, die ja ein Ende markiert. Möglicherweise.

Mit der einstündigen Performance verabschiedeten sich Matthias Lilienthal und sein Team nach fünf Jahren von München und den Kammerspielen. Wie berichtet, sollte zum Finale der Intendanz des 60-Jährigen das Spektakel „Olympia 2666“ stattfinden – Corona bremste diesen 24-Stunden-Marathon aus. Es gab aber bereits eine Inszenierung von Toshiki Okada für die VIP-Lounge des Stadions. „Die hat mich so bestochen, dass wir in Kooperation mit Toshiki unbedingt im Münchner Olympiastadion die Olympischen Spiele von Tokio eröffnen möchten“, verriet Lilienthal vorab im Gespräch mit unserer Zeitung.

Vier Produktionen hat der japanische Regisseur und Autor in den vergangenen Spielzeiten an der städtischen Bühne eingerichtet. Nun hat er zusammen mit dem Ensemble innerhalb weniger Tage diese „kleine Geste des Abschieds“ erarbeitet, die am Samstag einmalig vor offiziell genehmigten 400 Zuschauerinnen und Zuschauern gezeigt wurde.

Es ist eine Abschiedsvorstellung ohne jeden Abschiedskitsch – die dennoch anrührt: durch ihre Poesie, durch ihren Witz, durch den Spaß am Spiel, die Lust am Widerspruch und die Freude an Reibung, die entsteht, wenn gigantische Gesten auf leise Erzählungen treffen. En passant gelingt es Okada, das Theaterverständnis zu offenbaren, das Lilienthal im Haus an der Maximilianstraße etablierte.

Die Kulisse für dieses Endspiel: umwerfend, natürlich. Vor wenigen Wochen hätten etwa Guns N’ Roses hier ihre ausverkaufte Show spielen sollen. Da es auf Größe aber nicht ankommt, stürzt sich Julia Riedler zum Auftakt am Flying Fox vom Zeltdach und rauscht über das Oval zur anderen Seite: Nicht nur Axl Rose und Slash können ein Stadion begeistern. Vor ihrem Superheldinnen-Sprung hat die Schauspielerin angekündigt, in die Allianz-Arena zu wollen, schließlich sei die neuer, ergo: Die Toiletten sind sauberer. Es sollte nicht der einzige Vergleich zwischen Behnischs olympischer Stätte und dem Fröttmaninger Fußballtempel bleiben – und wer wollte, konnte die Analogie zwischen den Kammerspielen und größeren, staatlichen Bühnen ziehen.

Nach Riedlers Abflug strömen zu Kazuhisa Uchihashis sanften Gitarrenklängen zehn Rasenpflegerinnen und Rasenpfleger auf das getrimmte Grün, wässern es, zupfen hier, kümmern sich dort. Schließlich soll alles vorbereitet sein für jenes „globale Event“, von dem sie so ahnungslos wie bedeutungsschwer raunen. Doch nur „der Mario“ kann entscheiden, wann es steigt.

Da ist er schon: Samouil Stoyanov fährt auf dem Kettcar durchs Stadion – nachdem er mit dem Publikum Sport gemacht hat (inklusive Mario-Juchzer!). Doch ist er überhaupt der echte Held? „Vielleicht ist Mario ja gar nicht der Name eines Individuums, sondern einer ganzen Spezies“, mutmaßt ein Gärtner. Durchs Marathon-Tor tritt Damian Rebgetz auf, auch er in blauer Latzhose, rotem Hemd, und sinniert über Vergangenes: „Die Zeit war aus den Fugen. Erinnern Sie sich?“ Viel Frust und Wut gab es schließlich in den ersten drei Lilienthal-Spielzeiten in Teilen des Publikums und der Stadtpolitik.

Dann erheben sich fünf Grashalme zwischen den Sitzen der Gegengerade, philosophieren über den flachen Bau des Stadions, der – etwa im Vergleich zu den steilen Wänden der Arena – für gute Durchlüftung sorgt: „Wenn ganz verschiedene Pollen und Samen hier hereingetragen werden, bringt das auch mehr Rhythmus hervor“, ist Jelena Kuljić überzeugt – und meint freilich Lilienthals Kammerspiele-Arbeit, seinen vielstimmigen, diversen, bunten, fordernden Theater-Hybrid.

Am Ende ist das Grün zwar noch immer braver Rasen. Doch zurück aus Fröttmaning scheint sich Super-Mario-Riedler durch einen Dschungel kämpfen zu müssen. Die Saat geht auf. Oder?

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