Ob wirklich jedem Anfang ein Zauber innewohnt, wie Hermann Hesse meinte, sei mal dahingestellt. Für die erzählende Literatur allerdings gilt sehr wohl, dass es Anfänge in sich haben, ja dass es gar so etwas gibt wie die Magie des ersten Satzes. Nämlich in dem Sinn, dass der erste Satz eines Romans oder einer Erzählung das ganze Werk in nuce enthält, seinen „Quellcode“ darstellt, um es in der Sprache des IT-Zeitalters zu sagen. Nicht umsonst behauptete bereits Autor und Regisseur Alain Robbe-Grillet, man könne anhand erster Sätze eine ganze Literaturgeschichte schreiben.
Zumindest tendenziell hat diesen Versuch jetzt Peter-André Alt unternommen. „Der Anfang ist der Ursprung, aus dem das Ganze hervorgeht“, erklärt auch er in seinem Buch, in dem sich der Berliner Literaturwissenschaftler Gedanken macht über „Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“. Von Homer bis Houellebecq reicht das Spektrum der Autoren, deren erste Sätze Alt unter die Lupe nimmt. Und weil er einen angenehm essayistischen Stil pflegt, ist es so unterhaltsam wie anregend, seinen Betrachtungen zu folgen. Zumal man aus ihnen ganz nebenbei auch eine Menge über den richtigen Umgang mit Meisterwerken lernt.
Wer sich der Weltliteratur nämlich mit untertäniger Ehrfurcht, statt mit wacher Offenheit nähert, ist schon auf dem Holzweg, wie etwa an Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ deutlich wird. Der erste Satz dieses berühmten Romans ist bekanntlich ein trocken-wissenschaftlicher Wetterbericht – aber als solcher eben gerade nicht „ernst“ zu nehmen. Er macht vielmehr absichtlich das Scheitern des Versuches sichtbar, die Welt angemessen in Sprache zu transformieren, die unendliche Fülle der Realität in einer Beschreibung zu erfassen. Dieses bewusste Misslingen als Merkmal der Moderne kann überhaupt nur bemerken, wer nicht a priori jedes Dichter-Wort für heilig hält. Aber auch wer beispielsweise immer schon den Eindruck hatte, der Beginn von Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ sei ein verkappter Werbetext des Schweizer Tourismusverbandes, dürfte sich zumindest indirekt bestätigt fühlen. Peter-André Alt weist sehr scharfsinnig darauf hin, dass die Bilderbuchlandschaft, die da geschildert wird, gleichsam aus der Perspektive eines (niedrig fliegenden) Piloten gesehen ist – und damit wird sie vollends zur Postkarten-Kulisse.
Derart sensibilisiert, fragt sich der Leser natürlich auch, was es bedeuten könnte, dass einer der allerberühmtesten Romananfänge im Originalmanuskript einen saftigen Rechtschreibfehler enthält: „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben“. So, tatsächlich mit „äu“, brachte Kafka den Anfangssatz seines Meisterwerks „Der Prozess“ zu Papier. Aber vielleicht sollte man in diesen Schnitzer gar nichts hineingeheimnissen, weil er einfach bloß zeigt, dass auch promovierte Juristen (wie Kafka einer war) in der Orthografie nicht immer ganz sattelfest sind.
Peter-André Alt:
„‚Jemand musste Josef K. verleumdet haben…’ Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“.
C.H. Beck Verlag, München, 262 Seiten; 26,95 Euro.