Attacke auf die Werktreue

von Redaktion

Das Deutsche Theatermuseum beleuchtet die Historie des „Regietheaters“

VON MICHAEL SCHLEICHER

Im Videofilm im letzten Raum dieser reichen, detailbewussten Ausstellung gibt es ein Szenenfoto, das zeigt, wie eine Frau die Waffe auf den Kopf eines Mannes richtet, der in einem Reclamheft liest. Aus Nurkan Erpulats Berliner Inszenierung von „Verrücktes Blut“ stammt dieses Bild, das wirkt, als ginge es gar nicht um den Menschen, sondern ums kleine gelbe Büchlein, das er vors Gesicht hält. Hier wird Reclam, Inbegriff deutscher Klassikerpflege, erschossen.

Natürlich erzählten Stück und Inszenierung von anderem. Und dennoch ist die Aufnahme ein herrliches Symbol für die Ausstellung „Regietheater“, die jetzt im Deutschen Theatermuseum am Münchner Hofgarten zu bestaunen ist: Werktreue, hingerichtet auf offener Bühne durch Theatermacher, die sich nicht darum scheren, was geschrieben steht.

Ein „Reizwort deutscher Theatergeschichte“ sei der Begriff, stellt die Schau, die Museumsdirektorin Claudia Blank kuratiert hat (Mitarbeit: Petra Kraus), gleich zu Beginn fest. Und räumt im Fortgang gründlich mit der noch immer geläufigen Annahme auf, die 68er-Generation, also Theatermacher wie Peter Zadek, Peter Stein und Claus Peymann, hätten das Regietheater erfunden.

Blank geht vielmehr gut 100 Jahre in der Historie zurück und findet den Beginn des Regietheaters „irgendwo zwischen Otto Brahm und Max Reinhardt“. Kennzeichnend sei, dass sich erstmals „die künstlerische Arbeit des Regisseurs autonom zum Werk des Dramatikers verhält“ und den Text eigenständig interpretiert. Das freilich sorgt(e) für Ärger – nicht nur im Publikum (erstmals besonders heftig bei Leopold Jessners „Tell“-Inszenierung, die 1919 bei den Berlinern wahlweise Schnappatmung oder Jubel auslöste), sondern auch unter den Machern: So erklärte Reinhardt etwa, dass seine Arbeiten über den „Armeleutegeruch“ seines Mentors Brahm hinausreichen sollen. Fritz Kortner wiederum wird später feststellen, dass sich das „heutige Theater“ nicht ohne den „Vatermord an Reinhardt“ hätte durchsetzen können. Kurzum: „In der Konfrontation der Generationen hat sich sehr viel kreatives Potenzial freigesetzt“, wie die Kuratorin erklärt.

Die Präsentation zeichnet diese Beziehungsgeflechte ebenso nach wie sie das Exemplarische, auch Revolutionäre der jeweiligen Produktionen herausarbeitet und einander gegenüberstellt. Dazu zeigen Claudia Blank und Petra Kraus Regiebücher, Fotos, Videos und Modelle (etwa Reinhardts Drehbühne zum „Kaufmann von Venedig“ von 1905, auf der die ganze Stadt untergebracht ist!). Vor allem aber präsentieren sie: Zeichnungen von Bühnenbildern. Diese „Ikonen, Inkunabeln und unbekannten Fundstücke“ (Blank) dominieren den Hauptraum. Sie sind nicht nur illustrierte Theatergeschichte – viele Blätter stehen als fein gearbeitete Kunstwerke für sich: Caspar Nehers Aquarelle zu Kortners Münchner „Faust“ oder Emil Pirchans Entwürfe für Leopold Jessners Shakespeare-Produktionen „Richard III.“ und „Othello“, um nur zwei Künstler zu nennen.

Die Schau bietet in all das einen exemplarischen Einblick, kann und will jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben: Erwin Piscator, Dieter Dorn und andere Namen fehlen. Zudem ist nach den 68ern Schluss mit „Regietheater“ – zumindest am Hofgarten. Für Blank ist die Schau aber ein „Weiterdenkspiel, das Impulse setzen soll“. Zum Beispiel für einen Theaterbesuch.

Bis 11. April 2021,

Di.-So. 10-16 Uhr,

Galeriestraße 4a;

Katalog (Henschel): 38 Euro.

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