Kunst der Fuge

von Redaktion

Provisorium mit „Wow-Effekt“: Rundgang über die Baustelle für den Sendlinger Interims-Gasteig

VON MARKUS THIEL

Ob in Rot, Gelb oder einer anderen Farbe: Der 8. Oktober 2021 sollte einem schon jetzt aus den Terminkalendern entgegenleuchten. Dann wird Valery Gergiev den Taktstock heben (oder alternativ sein bekanntes Zahnstocher-Werkzeug) – und erstmals wird man in München erfahren, wie ein Saal des japanischen Akustik-Papstes Yasuhisa Toyota klingt. 1800 Zuhörer werden Zeugen sein. Auch wenn man jetzt, im Sommer 2020, noch gar nicht dran glauben mag. Denn: Wo sollen die alle untergebracht werden?

Wer in diesen Tagen auf der künftigen Bühne steht, sieht: einen blau-orangefarbenen Kran, der unweit Gergievs künftiger Position in den Himmel Sendlings ragt. Dazu eine Öffnung im Boden, die wie ein Orchestergraben wirkt, und gegenüber eine Betonschräge. Dass diese Arena, in die erbarmungslos die Sommersonne knallt, wirklich Münchens zweitgrößter Konzertsaal sein wird, glaubt man erst, wenn man die Schräge besteigt. Ein gedrungener viereckiger Raum, steile Ränge, mit der Musik auf Tuch- und Bauchfühlung – ja, das könnte einleuchten.

„Sie müssen sich nur vorstellen, dass hier eine Art Holzkörper mit den Rängen hineingehängt wird.“ Sagt Max Wagner, der sich auch aufs Eröffnungsdatum festgelegt hat. Eine riskante Aussage? Nicht beim Gasteig-Geschäftsführer, der als personifizierter Optimismus über die Baustelle führt. Die Zahlen sprechen ja für ihn. Der Zeitplan wird eingehalten, die Musiksaison 2021/22 kann im Ausweichquartier für den dann zu renovierenden Gasteig stattfinden. Ein paar Monate später sollen die anderen „Module“ nachziehen, wie es Wagner ausdrückt, und meint damit die übrigen Gasteig-Bewohner wie Bibliothek und Volkshochschule.

Keine Corona-Krise also an der Hans-Preißinger-Straße in Sichtweite des Heizkraftwerks? „Ich hatte täglich Angst, dass die Baustelle geschlossen wird“, gesteht Wagner. Gut 60 Menschen sind derzeit dort beschäftigt. „In sehr naher Zukunft“ werde das Personal aufgestockt. In drei Monaten solle Richtfest für die Interims-Philharmonie gefeiert werden.

Wobei Interim: „Sendlinger Gasteig“ heißt das Projekt, so steht es auch auf dem Transparent draußen am Bauzaun. Eigentlich klingt das nicht nach Provisorium, nach Zwischenlösung während der Generalsanierung des „alten“ Haidhauser Gasteig. Gut möglich, dass hier, unweit des Flauchers, ein derart attraktives Kulturzentrum entsteht, von dem man gar nicht mehr lassen will. Die Münchner Grünen um Florian Roth haben eine Dauerlösung schon mal thematisiert.

Vorerst steigt man aber noch über Eisenprofile, die gebündelt am Boden liegen, irrt durch Metallstrebenwälder und liest: „Nutzlast 1500 kg/qm“, diverse Zahlen, „zulässige Höchstbelastung“ – Wandbeschriftungen, die von der ehemaligen Nutzung künden und erhalten bleiben sollen. Die frühere Industrie- Ära soll den Besuchern ins Auge springen. Als aparte Dekoration und als Schrift gewordene Erinnerung.

Über 100 Millionen Euro wird das Projekt kosten. Bis zum Winter 2025 soll der – durchaus imponierende – Ersatz-Gasteig eigentlich in Betrieb bleiben. Spar- und Abspeckrunden musste die Planung schon durchlaufen. Mehrere Veranstaltungsstätten werden in Sendling hochgezogen, Volkshochschule und Bibliothek finden vorübergehend eine Heimat, und auch für die Gastronomie ist gesorgt – ob drinnen oder auf den neu entstehenden Plätzen zwischen den Gebäuden.

Herzstück ist die ehemalige Trafohalle, in deren Keller einst Elektro-Monstren lagerten. Wer jetzt eine schmale Treppe hinabsteigt, muss auf sein Hirn achten. Rohre verlaufen wenige Zentimeter über dem Kopf. Man geht über Kies, in dem sich jäh Löcher auftun – der „Unterbauch“ des Gebäudes muss erneuert werden.

Das gesamte denkmalgeschützte Backstein-Juwel, nun Halle E genannt, wird dabei zum Multifunktionsblock. Drinnen fängt sich der Blick noch am Stahlrohrskelett. Doch was man auch sieht: Die früheren Galerien wurden freigelegt, Wandel-Foyers zeichnen sich ab. Oben soll die Bibliothek Platz finden. Das Erdgeschoss ist als Entrée fürs gesamte Areal gedacht – mit entsprechenden Info- und Kartenschaltern, einer Bar und dem Übergang zur Philharmonie. Der Clou ist nämlich die Konfrontation von Alt und Neu, das nur scheinbar harte Nebeneinander von Bestand und Moderne, aus dem sich so viele spannungsvolle Bezüge ergeben können: Was in Skandinavien längst praktiziert wird, soll nun auch an der Isar erlebbar werden. Eine „Fuge“, so nennt sie Max Wagner, ein schmaler Gang zwischen Halle E und Philharmonie ist dabei als Übergangsraum gedacht. Wer die alte Halle verlässt und die Fuge durchschreitet, dem öffnet sich die Sendlinger Philharmonie. Einen „Wow-Effekt“ verspricht Wagner. „Das kann Kult werden.“

Dass sich manches auf dem Gelände erst „zurechtruckeln“ musste, räumt der Gasteig-Chef ein. Die Planung insgesamt betrifft das, die Raumforderungen der Gasteig-Bewohner, auch Anwohner, die zwischenzeitlich über Baulärm klagten. Vor allem aber mussten die Handwerker und Kreativen, die auf dem Stadtwerke-Areal ansässig sind, befriedet und in eine Lösung eingebunden werden. Ein Stück entfernt von der Philharmonie-Baustelle öffnet sich daher eine Tür – und dies zu einer Werkstatt-Bühne im eigentlichen Sinn: Der örtliche Reifenhändler bedient dort weiterhin seine Kunden. Es wäre nicht verwunderlich, wenn das Gasteig-Team auch nach dem Oktober 2021 dafür eine pfiffige Idee hätte: Wer im Abo-Konzert Valery Gergiev lauscht, kann ja so lange sein Auto versorgen lassen.

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