Aussicht auf das Leben

von Redaktion

Valerie Fritschs kunstvoller Roman über den Schmerz

VON MELANIE BRANDL

Lyrisch ist Sprache dann, wenn sie Bilder im Kopf erzeugt, sich die Bedeutungen zwischen den Zeilen tummeln und schnelles Querlesen unmöglich ist, weil die ungewohnten Wortkonstruktionen nur durch eine Langsamkeit des Wahrnehmens wirklich entschlüsselt und genossen werden können.

Valerie Fritsch ist eine Meisterin dieser lyrischen Sprache. Sie erzählt in ihrem Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“, wie sehr ihre Protagonistin Alma leidet unter einem Sohn, der keinen Schmerz empfinden kann und dem damit auch jegliches Mitgefühl für andere fehlt, und unter dem Großvater, der im Krieg zum Verbrecher wurde und nach langer Gefangenschaft zurückkehrt in ein Leben, das ohne ihn längst weitergegangen ist, und der weder von Schmerz noch von Schuld wissen möchte. Dabei bedient sie sich einer Sprachkunst, um die unfassbare Größe solchen Unglücks begreifbar zu machen.

Alma ist geprägt von ihren nach dem Krieg geborenen Eltern und „groß geworden in Haushalten der Unverfügbarkeit, in denen jedes Kinderleid zu klein war, um ernst genommen zu werden, weil es nicht heranreichte an die schmerzhaften Erinnerungen der Kriegsgeneration“. Also versucht Alma krampfhaft, alles besser zu machen: Jeden Abend sucht sie ihren Sohn ab nach kleinen und großen Wunden, will ihn beschützen und ihm gleichzeitig mit Worten klarmachen, was Schmerz bedeutet. Eine Art „Traurigkeit des Körpers“ sei er, ein „Liebeskummer der Hände, Arme und Beine“.

Dem Großvater wird es nicht mehr gelingen, den eigenen Schmerz irgendwann offen zuzulassen: Ohne Lebensbeichte oder Liebesbekundung, am Ende nur noch durch künstliche Herzklappen am Leben gehalten, stirbt er: „Er schwieg sich davon.“ Die Großmutter folgt ihm freiwillig und perfekt vorbereitet nur wenige Tage später. Im Gegensatz zu ihrem Mann aber hat sie zuvor und schwer krank die Chance genutzt, endlich das eigene Leid in Worte zu fassen. Wenn Alma die Großmutter besucht, wirkt das Haus, in dem diese lebt, auf sie „wie ein Einmachglas, das noch die entferntesten Jahre haltbar gemacht hatte. Ein Behälter für den alten Schmerz.“ Und diesen Behälter leert die alte Frau über Alma aus in der Hoffnung, sich selbst von der Last zu befreien. „Sie verabreichte Geschichten wie Schmerztabletten, wohldosiert, mal mit dem Teelöffel, mal mit der Schöpfkelle, ein glanzvolles Unglück nach dem anderen.“

Alma schleppt das alles mit sich – die verschwiegene Schuld des einen, den erbitterten Kampf gegen den Schmerz der anderen, die Verständnislosigkeit für beides beim eigenen Kind. Dazwischen das Gleichgewicht zu halten, nicht erdrückt zu werden vom Trauma einer Vergangenheit, sondern der nächsten Generation Mitgefühl und Lebensmut zu vermitteln und sich dabei selbst fortzubewegen auf der Reise des Lebens, kostet Kraft. Und auch das Lesen eines Romans mit einer solchen Tiefe und Ernsthaftigkeit ist kein leichtes Vergnügen. Allerdings eines, das sich, trotz mühsamer Strecken und mancher Steigung zwischendrin, dank der herrlichen Aussicht auf das Leben an sich am Ende lohnt.

Valerie Fritsch:

„Herzklappen von Johnson & Johnson“. Suhrkamp, Berlin, 175 Seiten; 22 Euro.

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