Das öffentliche Leben befindet sich noch immer im Wartezustand. Theater und Kinos, Oper und Konzertsäle, Hallen und Live-Clubs, Bibliotheken und Museen müssen sich wegen der Corona-Pandemie umstellen. Normalerweise sind wir Kulturredakteure und unsere freien Kritiker für Sie, liebe Leserinnen und Leser, Tag für Tag und Abend für Abend unterwegs, um über das Kulturleben zu berichten. Die Zeit der Zwangspause nutzen wir, um innezuhalten – und uns nun zu fragen, welches Ereignis, welcher Künstler, welche Musikerin, welches Werk uns einst für Kunst und Kultur begeistert hat. Die natürlich absolut subjektiven Antworten drucken wir in loser Folge – und hoffen, dass die Texte auch für Sie Entdeckungen bereithalten. Heute bekennt sich Simone Dattenberger, die über bildende Kunst, Theater und Literatur schreibt, zu ihrem Film-Liebling.
Wann ich Monsieur Hulot kennengelernt habe, weiß ich überhaupt nicht mehr. Er war meinem Gefühl nach immer da. Auf ihn, obwohl ein großer Schussel, war und ist Verlass – egal ob ich sechs oder sechzig Jahre alt bin. Als kleines Mäderl traf ich Monsieur Hulot in den Ferien; nicht in meinen, sondern in seinen. „Die Ferien des Monsieur Hulot“ (1953) war mein erster Film mit Jacques Tati (1907-1982) – womöglich zugleich der erste Kinobesuch überhaupt? Dass der langhaxerte, verschrobene, maulfaule Mann, der sich an seinem französischen Urlaubsdomizil vergnügte, auch der Regisseur war, kam mir gar nicht in den Sinn. Das Kind hat sich einfach narrisch gefreut über diesen erwachsenen Mann, der zugleich Kind geblieben war: Er war tollpatschig und doch ein Gentleman, schüchtern und doch erotisch interessiert, heute würde man sagen: absolut uncool und doch total cool. Wie er bei null Ahnung von Tennis seine Gegner vom Platz fegte!
Dieser sanfte Hulot steckt natürlich ein bisschen in dem Franzosen Tati (Tatischeff). Der war mit seinen russischen, niederländischen und italienischen Wurzeln ein besonderes Gewächs, das aus keiner Baumschule kam und schon gar nicht (gartengestalterisch) beschnitten werden wollte und konnte. Seine Hulot’sche Seele setzte Tati jedoch, wenn es sein musste, beinhart in Kinobilder um. Künstlerisch gab es keine Kompromisse. Dem Mädchen von einst war das nicht bewusst, die extrem hohe Qualität seiner Werke haben es jedoch geprägt; so sehr, dass viele andere Filmemacher als Wischiwaschi-Regisseure durchfallen.
Und, wie gesagt, auf Tati/Hulot ist Verlass. Ich weiß, dass ich als Kind fast erstickt bin vor Lachen bei bestimmten Szenen aus den „Ferien“. Das Tennismatch, das habe ich knapp überlebt. Aber auch die komische Peinlichkeit bei einer Beerdigung! Bei einem Ausflug gibt Hulots Schnackler (ein hinreißend unmodernes Auto) nicht nur seinen Geist auf, sondern verliert auch den außen angebrachten Ersatzreifen. Der macht sich zum Schrecken der Gestrandeten selbstständig und rollt nicht einfangbar auf den Beerdigungszug zu. Blamabel unsensibel. Aber nein: Gnädig kleben sich feuchte Blätter an das Gummi-Rund, und so wird der Pneu als zusätzlicher Trauerkranz harmonisch ins Begräbnis integriert.
Vielleicht waren und sind es solche Tati’schen Lösungen von Alltagsunbill, die das Kind, die junge und die ältere Frau immer wieder erheitert und getröstet haben. Der geniale Künstler, bereits für seine Sportpantomimen gefeiert und für die Filme prämiert – ja, auch mit dem Oscar –, feierte nie die Leistungsträger, die Ordnungsstifter, die Starken. Er beweist bis heute, dass all die andern, nämlich wir, mit unserer Unzulänglichkeit, unserem Wirrwarr, unserem Genießen-Können die Welt lebens- und liebenswert erhalten.
Deswegen widmete Tati jedem Einzelnen und jedem einzelnen Detail, ob Klang, ob Kleidung, ob Bewegungsstil, ob Besitztümern oder Beziehungen seine Aufmerksamkeit. Daher habe ich bis heute jederzeit eine garantiert wunderbare Unterhaltung im DVD-Fach – und entdecke bei jedem Anschauen Neues und Kluges: den Städtebau-Sündenfall in „Mein Onkel“ (1958); in den „Ferien des Monsieur Hulot“ die Vorwegnahme der Europäischen Union, und das kurz nach Kriegsende; in „Jour de fête“ (1949) eine Art Burn-out; eine Parodie auf Autocrash-Action in „Trafic“ (1971). Und in „Play Time“ (1967), dem Traum vieler Cineasten, erlebe ich so etwas wie einen französisch gemilderten Kafka – mit einem Hauch Hoffnung.