Alles muss raus

von Redaktion

SALZBURGER FESTSPIELE Konzerte mit Riccardo Muti und Sonya Yoncheva

VON TOBIAS HELL

Vieles ist in Salzburg in diesem Sommer anders, manches hingegen (fast) wie immer. Denn während andernorts Kammermusik und reduzierte Besetzungen Hochkonjunktur haben, betraten die Wiener Philharmoniker auch für Beethovens Neunte die Bühne des Großen Festspielhauses in voller Stärke – inklusive Wiener Staatsopernchor in einer Besetzung (und ohne Abstandsregelung), von der deutsche Ensembles derzeit nur träumen dürfen. Das Orchester knüpfte quasi dort an, wo es im März im Münchner Gasteig aufgehört hatte. Dort war der zur Halbzeit abgebrochene Zyklus mit den kompletten Symphonien (damals mit Andris Nelsons am Pult) eines der großen letzten Events vor dem kulturellen Lockdown gewesen.

Die in der Zwangspause aufgestauten Energien schienen sich in dieser Salzburger Festspiel-Matinee daher umso heftiger zu entladen – obgleich Dirigent Riccardo Muti in der ersten Hälfte durchaus um eine differenzierte Gestaltung bemüht war. Der italienische Maestro vertraute nämlich keineswegs nur auf den berühmten satten Streicherklang der Philharmoniker. Gerade im locker und entspannt servierten Scherzo wussten sich auch die von Muti detailverliebt herausgearbeiteten Bläser bestens zu inszenieren.

Die danach folgende Zäsur, war allerdings nicht nur der Interpretation geschuldet, sondern zum gleichen Teil dem Hygienekonzept, das den Auftritt der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor hinter den zweiten Satz verlegt hatte und die Damen und Herren mit einer halbhohen Plexiglaswand abschirmte. Behutsam der Neueinstieg, wobei Muti den dritten Satz mit getragenen Tempi streng zelebrierte, ehe er Chor und Orchester im Finale losstürmen ließ. Obwohl das machtvoll herausgeschleuderte „Seid umschlungen Millionen“ in Zeiten der sozialen Distanz einen beinahe tragischen Beigeschmack hatte.

Solche Gedanken schien man sich an diesem Vormittag aber nicht machen zu wollen. Fast schon zu ausgelassen die Stimmung im Orchester, wo man freudig im Takt mitwiegte und sich zwischen den Pulten zuzwinkerte, im Zuge dessen aber das Klangbild zuweilen etwas verschwimmen ließ. Nicht immer ganz homogen ebenfalls das Solistenquartett. Vier Luxusstimmen, die sich dennoch nur selten mischen wollten. Während Bariton Gerald Finley samtig orgelnd den Reigen eröffnete und Marianne Crebassas kostbarer Mezzo dem Ohr wohlig schmeichelte, ließ Saimir Pirgu einen lyrisch grundierten Tenor, aber nur wenig vom durchaus gehaltvollen Text vernehmen. Ein Manko, das man auch Salzburgs neuem Sopranliebling Asmik Grigorian ein wenig ankreiden muss, deren voluminöses Organ die anderen oft überstrahlte.

Leisere Töne wurden dagegen am Nachmittag im Haus für Mozart angeschlagen, wo Sonya Yoncheva mit einem dramaturgisch klug aufgebauten Rezital antrat, dessen Motto „Renaissance“ sehr bewusst gewählt worden war: einerseits bezogen auf das Repertoire, aber ebenso als Erkenntnis, dass sich die Kulturbranche in diesen Zeiten notgedrungen ein Stück weit neu erfinden muss. Den hier eingeschlagenen Weg darf die Sängerin aber auch nach der hoffentlich baldigen Rückkehr zur Normalität gerne weitergehen.

Es hatte durchaus seinen Reiz, die Arien von Cavalli, Monteverdi oder Purcell zur Abwechslung von einer sonst bereits bei Verdi und Puccini angekommenen Stimme zu hören. Zumal es Yoncheva durchwegs gelang, ihren üppigen Sopran bei dieser Rückkehr zu den Wurzeln sanft zurückzunehmen und dramatische Ausbrüche als bewussten Kontrast zu setzen – so etwa bei einem bewegenden Klagegesang aus ihrer bulgarischen Heimat, nach dem auf der Bühne sogar ein paar echte Tränen flossen.

Stilsicher begleitet wurde sie dabei von der Cappella Mediterranea unter Leitung von Leonardo García Alarcón. Einer virtuosen zehnköpfigen Truppe, die nicht nur in ihrem gewohnten Kernrepertoire Kompetenz bewies, sondern ebenso bei der überraschenden Zugabe, für die man einen Song von Abba-Mitbegründer Benny Andersson barock eingekleidet hatte. „Nicht als Provokation“, wie Yoncheva betonte, „sondern als Beweis dafür, dass Musik zeitlos ist“. Nach diesem berührenden Auftritt konnte man ihr da schwer widersprechen.

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