Am Ende geht es, worum es am Ende immer geht – um die ganz großen Fragen. Bei der Lektüre von Sally Rooneys nun auf Deutsch erschienenem Roman „Normale Menschen“ (2018) fliegen einem viele Gedanken durch den Kopf: Wie beeinflusst der Blick der anderen unseren Blick auf uns selbst? Zwischen wie vielen Rollen kann ein Mensch im Laufe eines Lebens, Jahres, Tages wechseln? Und, da ist sie, die ganz große Frage: Gibt es ein Zurück zu der Person, die man einmal war, ehe das Leben und die Liebe einem jede Unschuld nahmen?
Denn zuallererst ist das zweite Werk der 29 Jahre jungen Irin Sally Rooney eine große Liebesgeschichte. Ganz und gar verzwickt, ganz und gar bezaubernd, ganz und gar unvergleichlich. Und doch wieder völlig austauschbar. „Um weltweiten Erfolg zu erlangen, müsste das Alltägliche auf individuelle Weise dargestellt werden“, empfahl John Peale Bishop einmal seinem Schriftstellerkollegen F. Scott Fitzgerald. Das ist ziemlich genau die Erfolgsformel der Irin, die ihre Stoffe direkt aus der Lebenswelt ihrer Leser nimmt, doch so anreichert, dass sich neue Sichtweisen auf das eigentlich Vertraute auftun.
Sie erzählt von Marianne und Connell, zwei Highschoolschülern kurz vorm Abschluss, die dann an dieselbe Uni, vom Land im tiefsten Irland aufs Trinity College in die große Stadt gehen. Jedes Paar hält sich ja für außergewöhnlich. Das ist, was den Zauber ausmacht. Wir gegen den Rest der Welt. Wir, die anders sind als all die anderen. Doch dieses Wir leben die beiden heimlich. Connell schämt sich, mit der Außenseiterin Marianne – ja, was eigentlich? Befreundet zu sein? Eine Sexaffäre zu haben? Die erste große Liebe zu leben? Er verleugnet sie in der Öffentlichkeit. Und sie, die Devote, die es daheim nicht anders gelernt hat, als sich körperlicher und psychischer Gewalt zu beugen, hält auch hier aus. Wer ist der wahrhaft Stärkere in diesem verwirrenden Spiel aus Anziehung und Ablehnung?
In Schulzeiten scheint es Connell zu sein. „Es lag in Connells Macht, sie glücklich zu machen. Es war etwas, das er ihr einfach geben konnte, wie Geld oder Sex.“ In Zeitsprüngen geht es Kapitel für Kapitel vorwärts in die Unizeit. Ändert sich das Umfeld, ändert sich auch die Dynamik in der Beziehung der beiden. Connell erkennt, wie ungeheuer abhängig er sich von der Meinung der anderen gemacht hat. Dass es falsch war und ist, seine Beziehung zu Marianne zu verheimlichen. Dass er sie braucht, wie sie ihn braucht. Sie beide sehnen sich so sehr danach, „normal“ zu sein, und merken gar nicht, dass ihr Glück gerade in der Andersartigkeit, die sie verbindet, liegt.
Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte zweier Menschen, die, sich dessen mal mehr, mal weniger bewusst, einander auf dem Weg des Erwachsenwerdens prägen. „Schon lustig, welche Entscheidungen man trifft, weil man jemanden mag, sagt er, und dann ist das ganze Leben anders“, heißt es an einer Stelle des Romans, der – wie schon Rooneys Furore machendes Debüt „Gespräche mit Freunden“ (2017) – ohne jedes Anführungszeichen vor und nach Zitaten auskommt. Ein stilistisches Mittel, das Erzählstimme und Stimmengewirr der beschriebenen Personen zu vermischen scheint. Jedes gesprochene Wort wird auf diese Weise zum geschriebenen. Gewinnt an Bedeutung. Anders: Rooney erinnert uns so an die Bedeutung, die jedem gesprochenen Wort immer innewohnt. Was wir allzu gern vergessen.
Das Leben versaut uns, auch das keine neue Erkenntnis. Wir können nicht zurück in die Zeit, als wir von der unheilvollen Verbindung zwischen Liebe, Sex und Schmerz noch nichts ahnten. Doch das Leben, es gibt uns auch immer wieder neue Chancen. „… und er verspürte das alte Pulsieren der Lust in seinem Körper, so wie wenn man das perfekte Tor sieht, wie das Knistern des Lichts, wenn es durch Blätter fällt, ein Musikfetzen aus dem Fenster eines vorbeifahrenden Autos. Das Leben hält trotz allem solche Augenblicke bereit.“ Dieses Buch ist ein einziger solcher Augenblick. Verweile!
Salley Rooney:
„Normale Menschen“. Aus dem Englischen von Zoë Beck. Luchterhand München, 320 S.; 20 Euro.